Buenos Aires (AT) – „Stuck between a rock and hard place” (Gefangen zwischen einem Felsen und einem harten Ort). Die American Dialect Society führt das Zitat auf Kumpel in der Bergbauregion Bisbee in Arizona zurück. Die Metapher diente den Kumpeln der Gold- und Silber-Minen, ihr Leben zwischen der Härte unter Tage und der nicht viel besseren Aussicht nach Schichtende über Tage zu beschreiben. Die knapp 36 Millionen Argentinier, die am Sonntag mit ihrer Stimme die letzte Runde der Wahlen 2023 zwischen Javier Milei oder Sergio Massa entscheiden, dürften sich den Bisbee-Kumpeln eng verbunden fühlen.
Die Stichwahl zwischen dem ultrarechten Milei und dem Polit-Profi Massa ist längst keine programmatische mehr. Zu stark sind nach neun langen Monaten einer bitteren und schmutzigen Kampagne die Emotionen einerseits und die Hoffnungslosigkeit andererseits, die zudem von einer stetig steingenden Inflationsrate (Anm. d. Red: 143% für das laufenden Jahr, laut Statistikamt Indec), eine allgegenwertige Kriminalität auf den Straßen sowie immer neuen Versorgungs-Engpässen täglich neu nähren. Rund 43% der rund 46 Millionen Argentinier leben in dem zehn reichsten Land der Welt entlang der Armutsgrenze, berechnete Anfang des Jahres das unabhängige Research-Institut der Katholischen Universität (UCA). Um nicht gänzlich in die Armut abzurutschen, ist ein großer Teil der Menschen abhängig von staatlicher Hilfe. Dazwischen bleibt wenig Raum für die Hoffnung auf Besserung. Doch auch eine Enthaltung verbietet sich angesichts der Lage. So kann es nicht verwundern, dass die häufigste Antwort auf die -mutige- Frage am Mittagstisch oder unter Freunden: „Wenn wählst Du?“ heute „Ich weiss es nicht“ ist.
Stcihwahl: eine Enthaltung ist keine Option
Die Kandidaten Milei und Massa vermochten es auch in der Endphase der Kampagne nicht, der Wählerschaft ein klares Bild darüber zu verschaffen, wohin sie das Land in Zukunft führen wollen; weder innenpolitisch noch in der Welt. Und das obwohl das Land auf einem der größten alternativen Erdgas- und Ölvorkommen der Welt sitzt als auch bei Lithium und Wasserstoff -der Energiequelle der Zukunft-, Landwirschaft und Innovation eine entscheiden Rolle auf dem Weltmarkt spielen – könnte.
Ulrich Sante brachte das Dilemma in den letzten Stunden auf den Punkt. Der heutige Vice Chairman Landesbank Baden-Württemberg LBBW und ehemaliger deutscher Botschafter in Buenos Aires (2020 – 2023) schreibt in seinem LinkedIn-Profil: „Der eine Kandidat (Anm. d. Red.: Sergio Massa) kommt ohne das in Argentinien heute schon omnipräsente China nicht mehr aus, der andere (Anm. d. Red.: Javier Milei) hat sich klar und deutlich für eine vollständige geopolitische Neupositionierung Argentiniens und eine – auch mit Blick auf den nördlichen „BRICS“-Nachbar Brasilien interessant – enge Beziehungen zum „Westen“ ausgesprochen“.
Zwischen “Vesorgungssytem” und “Koste es was es wolle”
Sante ist ein Beobachter mit Bodenerfahrung. Der ehemalige Diplomat bereiste das Land während seiner Dienstzeit am Rio de la Plata von Kopf bis Fuß. Er kennt viele der Hauptdarsteller des argentinischen Politzirkus aus dem persönlichen Gespräch. Deshalb wiegt es schwer, wenn er sagt: „Der eine (Sergio Massa) steckt trotz grundsätzlichen Reformwillens tief im staatskapitalistischen „Versorgungssystem“ des opportunistischen und auf Selbsterhaltung ausgerichteten Peronismus, der andere (Javier Milei) setzt mit großer staatszersetzender Radikalität ein „koste es, was es wolle“ auf die Freiheit des Einzelnen und die Kräfte einer minimal regulierten Wirtschaft, um den Trend zur immerwährenden Verarmung dieses an natürlichen Rohstoffen und erneuerbaren Energien aber auch an humanen Ressourcen unendlich reichen Landes zu brechen“.
Sante warnt jedoch auch davor, das ewige Krisen-Land Argentinien sich selbst zu überlassen: „Das achtgrößte Land der Erde ´links liegen lassen´ ist für uns trotzdem – oder gerade deswegen – keine Option. „Too big to fail“, „too important to neglect“, die Folgen eines möglichen weiteren Scheiterns Argentiniens, dieses wichtigen Partners des Multilateralismus, zwingen uns, auch mit Blick auf das Gesamtgefüge Lateinamerikas, genauer als bislang hinzusehen und ernsthaft und fokussiert engagiert zu bleiben. Aus Eigeninteresse!“.
Für die Argentinier entscheidet sich am Sonntag sehr viel mehr als nur eine Wahl. Aber auch für ein Europa, das mhr denn je auf neue Partner angewiesen ist.
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