In seinem Büro in der Deutschen Botschaft in Buenos Aires empfing Botschafter Dieter Lamlé das Argentinisches Tageblatt, um über zwei bedeutende Anlässe im bilateralen Kalender zu sprechen: 35 Jahre deutsche Wiedervereinigung – die am 16. Oktober in der argentinischen Hauptstadt gefeiert wird – und 200 Jahre deutsche Einwanderung nach Argentinien.

Mit der Gelassenheit eines erfahrenen Diplomaten verbindet Dieter Lamlé die historische Erinnerung mit dem Blick nach vorn: Herausforderungen der Demokratie, akademische und wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie wirtschaftliche Chancen durch das EU-Mercosur-Abkommen.

„Eine Revolution ohne einen einzigen Schuss“

AT: Herr Botschafter, welche Bedeutung hat der Tag der Deutschen Einheit für Sie – für Deutschland und die Welt?

DL: Wir feiern dieses Jahr 35 Jahre Wiedervereinigung. Für die Welt bedeutete sie das Ende der Teilung Deutschlands, Europas und des Kalten Kriegs. Für uns ist es das prägendste Ereignis unserer jüngeren Geschichte. 28 Jahre lang trennte eine 1.400 Kilometer lange Mauer unser Land. Die Wiedervereinigung gelang, weil Menschen friedlich auf die Straße gingen – sie forderten Freiheit und Reformen. Niemand dachte daran, die DDR aufzulösen. Doch die Bewegung war nicht aufzuhalten. Auf der anderen Seite stand ein autoritärer Staat mit schwer bewaffneter Polizei. Ein einziger Schuss hätte alles verändert – aber es blieb friedlich. Das war großes Glück. Ebenso wie die Unterstützung der USA unter George Bush senior und der Sowjetunion mit Michail Gorbatschow. Ohne sie wäre dies nicht möglich gewesen. Wir hatten starke Partner und ein kleines Zeitfenster, das wir optimal genutzt haben.

AT: Haben Sie persönliche Erinnerungen an diesen Moment?

DL: Ja. Ich war damals junger Diplomat in Ruanda. Es gab kein Internet, kein Fernsehen, nur die schwer empfangbare Deutsche Welle. Eines Tages rief mich ein ruandischer Kollege an, um mir zu gratulieren. Ich wusste nicht warum – er sagte: „Die Mauer ist gefallen.“ Ich rief in Bonn an, ließ mir ein Video schicken und zeigte es der deutschen Gemeinde. Wir waren 440 Menschen. Diese Bilder mitten im Dschungel zu sehen – das war unvergesslich, sehr emotional.

AT: Welche Lehren ziehen Sie aus diesem historischen Prozess?

DL: Die wichtigste: Niemals das Unmögliche aufgeben. Mauern können fallen – auch die in unseren Herzen. Hoffnung ist entscheidend. Heute stehen wir vor großen Problemen – Russland, Gaza – aber es gibt immer eine Lösung. Kooperation und Vertrauen sind der Schlüssel. Isolation führt zu nichts.

Die Spuren der deutschen Einwanderung

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Botschafter Dieter Lamlé betonte die Relevanz des Dialogs und der Kooperation zwischen Deutschland und Argentinien.

AT: Was bedeuten die 200 Jahre deutscher Einwanderung in Argentinien?

DL: 1825 begann die erste organisierte deutsche Einwanderung. Die argentinische Regierung lud Deutsche ein – mit Land und Aussicht auf ein besseres Leben. In Deutschland herrschte große Armut. Heute haben wir Provinzen wie Entre Ríos oder Misiones, in denen jeder Dritte deutsche Vorfahren hat. Eine tiefe, historische Verbindung. Ich habe diese Initiative ins Leben gerufen, um den Nachfahren zu danken. Ihre Großeltern kamen, um mitzubauen – und wurden mit offenen Armen empfangen. Auch die Aufnahme von 40.000 deutschen Flüchtlingen während der Nazizeit durch Argentinien ist bemerkenswert. Argentinien hat viele Leben gerettet – das verdient Dankbarkeit.

AT: Normalerweise pflanzen sie Bäume, um diese Beziehung zu symbolisieren. Warum?

DL: Ja, heute ist Baum Nummer 26 an der Reihe, hier in Buenos Aires. Der Baum steht für tiefe Wurzeln – die Freundschaft zwischen Deutschland und Argentinien – und zugleich für Wachstum in die Zukunft. Junge Menschen sollen sich mit deutsch-argentinischen Vereinigungen, Bildungsprogrammen, Stipendien und Unternehmen vernetzen. Wir arbeiten als Dreieck: Vereine, Handelskammern und die Stiftung Verbundenheit – zusammen mit der Botschaft. Das Projekt endet nicht dieses Jahr – wir säen für morgen.

Handel, Investitionen und Abkommen zwischen Mercosur und der Europäischen Union

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Der deutsche Botschafter in Argentinien, Dieter Lamlé, gab dem Argentinischen Tageblatt ein Exklusivinterview in seinem Büro in der Botschaft in Buenos Aires.

AT: Welche wirtschaftlichen Perspektiven sehen Sie für beide Länder und das Mercosur-Abkommen?

DL: In Argentinien sind derzeit 180 deutsche Unternehmen tätig. Sie investierten im letzten Jahr über eine Milliarde Euro. Es gibt enormes Potenzial: Bergbau, Energie, Wissensindustrie, Startups. Das Mercosur-EU-Abkommen wird seit 25 Jahren verhandelt. Es ist ein schwieriger Prozess, aber ich bin optimistisch. Scheitert das Vorhaben, ist der Ausgang für beide Seiten negativ. Gewonnen hätte in diesem Fall China. Das Abkommen sieht vor, 90 % der Zölle schrittweise abzubauen. Es ist die Antwort auf Trumps Protektionismus. Und es passt zur neuen deutschen Lateinamerika-Strategie: mehr Kooperation mit Argentinien und Brasilien – beides G20-Staaten.

AT: Welche Meinung vertreten Sie bezüglich des Investitionsanreizgesetzes RIGI?

DL: Eine gute Idee – aber nicht für uns gemacht. Die meisten deutschen Firmen in Argentinien sind mittelständisch – sie erreichen die geforderten 200 Millionen nicht. Vielleicht kommt eines Tages ein „kleines RIGI“, das besser passt.

Kultur, Bildung und Zukunftsprojekte

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Der Botschafter erläuterte den Wert der 200-jährigen deutschen Einwanderung und die Symbolik der Bäume, die er in jeder Provinz pflanzt.

AT: Über den Handel hinaus, welche Rolle spielen für Sie Kultur und Bildung in der bilateralen Beziehung?

DL: Eine zentrale Rolle. Das Max-Planck-Institut, die Humboldt-Stiftung, der DAAD – mit über 1.000 Stipendien jährlich – sind bedeutend. In Argentinien gibt es rund 30 deutsche Schulen und 142 deutsch-argentinische Vereinigungen. Kulturell ist viel los: ein Autokorso mit historischen deutschen Fahrzeugen, ein Polospiel Deutschland–Argentinien, ein Pato-Match in Misiones. Und wir hoffen, die Berliner Philharmoniker im Oktober 2026 ins Teatro Colón zu bringen – das wäre ein großartiger Abschluss für das Jubiläum.

Demokratie unter Druck

AT: Glauben Sie, dass die westliche Demokratie auf internationaler Ebene in Gefahr ist?

DL: Es hängt davon ab, wie Risiko definiert wird, aber es gibt Gründe zur Besorgnis. Die Demokratie steht internen und externen Bedrohungen gegenüber. Internen, wie dem Populismus – die AfD in Deutschland, Le Pen in Frankreich –; und externen, wie Putin oder China. Wir dürfen die Demokratie nicht für selbstverständlich halten. Die demokratische Mitte muss sich behaupten. Wenn wir nichts tun, kann es schlimmer werden. Niemand weiß, was in Frankreich oder Deutschland nächstes Jahr passiert – wir müssen wachsam sein.

AT: Und wie sehen Sie die Situation in den USA, einem Land, in dem die Demokratie besonders stark ist?

DL: Ich hoffe, es ist nur eine Phase. Ich vertraue darauf, dass die demokratischen Kräfte zurückkehren. Aber heute fragen sich viele: Sind sie noch unsere Freunde – oder nicht mehr?

Gemeinsam in die nächsten 200 Jahre

AT: Wie sehen Sie die Zukunft der deutsch-argentinischen Beziehung für die nächsten 10 Jahre?

DL: Europa und Lateinamerika sind wie ein Ehepaar – man versteht sich vielleicht zu gut. Aber zu viel Harmonie kann langweilig sein. Man muss debattieren, sich weiterentwickeln, neue Bäume pflanzen. Unsere gemeinsamen Wurzeln – Demokratie, Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit – müssen in die Zukunft getragen werden. Wenn nicht mit Argentinien – mit wem dann? Sicher nicht mit China. Wir setzen auf Argentinien.

Das Gespräch mit Dieter Lamlé zeigt die Logik eines Diplomaten, der historisches Gedächtnis mit einer pragmatischen Lesart der Gegenwart verbindet. Seiner Ansicht nach beruht die Verbindung zwischen Deutschland und Argentinien nicht nur auf dem kulturellen Erbe oder der Dankbarkeit für die Vergangenheit, sondern auch auf der Fähigkeit beider Länder, diese gemeinsame Geschichte in konkrete Zusammenarbeit umzusetzen.

In einer Zeit, die von globalen Spannungen und rasanten Veränderungen geprägt ist, erscheint das Bekenntnis zu Dialog, Bildung und gegenseitigem Vertrauen als stiller, aber beständiger Dreh- und Angelpunkt einer Beziehung, die auch nach so vielen Jahren noch immer im Aufbau begriffen ist.

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