Von Hildegard E. Keller (*)
Unlängst fragten sich deutschsprachige Leserinnen: Alfonsina wie? Muss ich diesen Namen kennen? Ja, musst du, sage ich nach sieben Büchern und fünfzehn Jahren Forschung in Argentinien, in den USA, in der Schweiz und in Deutschland. Alfonsina Stornis Lebenswerk verdient einen Platz in der Welt. Ich habe die erste deutsche Werkausgabe übersetzt, in fünf kommentierten Bänden mit Kolumnen, Erzählungen, Aphorismen, Kurzprosa, Literaturkritik, Briefen, Theaterstücken für Kinder und Erwachsene sowie Lyrik aus dem 46 Jahre kurzem Leben. Man kann auf Deutsch jetzt Texte lesen, die im Original noch nicht publiziert sind. Solche Neufunde finden sich auch in der Biografie, die ich dank der Werkausgabe schreiben konnte: Das “Leben und Weiterleben der Alfonsina Storni” in zwei reich bebilderten Bänden.
Alfonsinas Name leuchtet heute heller denn je. Ihre Resilienz unter widrigsten Umständen begeistert das deutschsprachige Publikum. Radiostationen aller drei deutschsprachigen Länder präsentierten die Bücher, die von mir übersetzte Erzählung «Cuca» wurde in das erste weibliche Weltpanorama der literarischen Moderne aufgenommen und bei Lesungen höre ich oft: “Was für eine Frische! Und so modern! Storni hatte es damals nicht leicht, aber heute macht sie uns Mut!”

Storni: Eine Feder, die Mut macht
Wie genau macht sie das? Alfonsina Storni führte ein radikal selbstbestimmtes Leben zwischen Broterwerb und Bühnenlicht, machte den Mund auf als berufstätige, unverheiratete Mutter, als Künstlerin und öffentliche Intellektuelle. Sie begann zu dichten, als «die Zangen des Patriarchats» noch «süß, aber schon erkaltet» waren, sagt sie und erzählt in autofiktionalen Texten, wie deplatziert eine wie sie im Buenos Aires der Zwanziger- und Dreissigerjahre wirkte. Storni entkam dieser Enge nur selten. Bei einer Spanienreise staunte sie über die Weite der Welt, in Barcelona und Madrid erlebte sie Pluralismus und Wohlwollen als Schriftstellerin und Intellektuelle.
Als Biografin folgte ich ihrer Spur auf zwei Kontinenten. Ich erzählte vom gelebten Werk einer Künstlerin und den Kräften, die es zu Lebzeiten und nach dem Tod formten, förderlichen wie feindseligen. Noch dreißig Jahre nach Stornis Tod kam aus Jorge Luis Borges’ Mund nichts als Unflat, aber begonnen hatte er mit den Invektiven blutjung. Frisch aus Spanien zurückgekehrt führte er in Buenos Aires Cancel Culture avant la lettre ein.

Warum Alfonsina gerade die neuen Generationen anzieht
Storni gab nicht auf und experimentierte mit Prosa und Theater. In bislang unbekannten Meinungsartikeln, die ich in der Biografie vorstelle, äusserte sich Storni 1926 und 1927 zu gesellschaftspolitischen Fragen wie Eugenik, Sexualerziehung und Kriminalprozessen. Hier gelang es ihr, so direkt wie in keiner anderen Gattung zum selbstbestimmten Leben ermutigen. Früh übt sich, wer ohne Angst vor Ideen, vor Neuem, vor dem Denken leben will. Storni lehrte künstlerische und intellektuelle Neugier, denn Kreativität «verfeinert die Seele», wie sie sagte.
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene lernten bei ihr sich mit Stimme, Gestik, Mimik, Bewegung und Musik auszudrücken, zuerst am Teatro Infantil Labardén, später auch am Konservatorium für Musik und Deklamation in Buenos Aires. Storni schrieb und inszenierte zahlreiche Stücke für Kindertheater.

Was lernen die neuen Generationen von Alfonsina Storni? Mit Zirkuspapageien erleben sie Freiheitsdrang, mit Hollywoodhelden wie Charlie Chaplin, dass das richtige Leben spannender ist als Ruhm auf der Leinwand, und mit Micki, dass auch der beste Mäusemann ohne seine Freundin Minnie kaum etwas schafft. Im Kinderzimmer eines bourgeoisen Haushalts rebellieren die Puppen, in einem Dramolett darf ein Junge seine Scham verlieren, wenn er bloß Mädchenarbeit verrichtet.
Mut ist alles in Stornis Spiel für und mit jungen Menschen. Es gebe keine Kunst des Lebens ohne die Kunst zu sterben, sagt eine der Theaterfiguren in Stornis Euripides-Adaption. Storni nahm sich am 25. Oktober 1938 sterbenskrank das Leben. Wie man diesen Freitod posthum zum Mythos erhob und damit das Lebenswerk in Vergessenheit geriet, erzähle ich in der Biografie. Ich holte es ans Licht, denn es verdient einen Platz unter den Lesenden.

(*) Prof. Dr. Hildegard E. Keller ist Germanistin und Hispanistin. Geboren in St. Gallen, Schweiz, war sie Literaturdozentin in neun Ländern und ist als Literaturkritikerin aus dem Fernsehen bekannt (2009-2019, Bachmannpreis ORF/3sat; Literaturclub SRF). Von 2001 bis 2017 war sie Professorin für mittelalterliche Literatur (Universität Zürich, Indiana University). Hildegard Keller ist freischaffende Autorin (Literatur, Film, Storytelling, Performance, Coaching). Sie übersetzte und gestaltete die erste deutsche Werkausgabe von Alfonsina Storni für die Edition Maulhelden. Sie schrieb und forschte über Hannah Arendt. Ihr Roman Was wir scheinen erschien 2021. Ein Jahr später feierte ihr zweiter Dokumentarfilm Brunngasse 8 Premiere. In Argentinien lehrte sie an der Universidad Nacional de San Martin (UNSAM). Mehr zur Autoin.




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