Buenos Aires (AT) – „Raus aus der WHO. Es lebe die Freiheit.“ Mit diesen Worten machte es Staatspräsident Javier Milei am Mittwoch per X amtlich: Argentinien verlässt die Weltgesundheitsorganisation (WHO, in der englischen Abkürzung). Milei gibt als Motiv das mutmaßliche „Missmanagement“ während der Corona-Pandemie an. Die Entscheidung sorgte im Ausland für Überraschung und Besorgnis. Im Inland kann der Ökonom jedoch mit weniger Widerstand gegen seine Entscheidung rechnen.
Argentinien war eines der Länder, in denen der Lockdown weltweit am längsten währte: Die rund 45 Millionen Argentinier waren zwischen März 2020 und Februar 2022 immer wieder über mehrere Wochen hinweg in ihren Wohnungen und Häusern „unter Verschluss“.
Was Mileis Vorstoß nicht erwähnt, ist, dass das lokale Missmanagement weniger mit der WHO als vielmehr mit den Fehlern und auch Korruptionsgeschäften der Mitte-Links-Regierung seines Amtsvorgängers Alberto Fernández und seiner Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zu tun hatte.
Allerdings bestritt Adolfo Rubinstein, Gesundheitsminister in den Jahren 2017 bis 2019 unter dem Milei-nahen Präsidenten Mauricio Macri, im Interview am Mittwoch ebenso wie die Gesundheitsminister der Provinzen, dass es die Statuten der WHO erlaubten, in die Souveränität oder lokale Entscheidungsgewalt eines Landes einzugreifen.
Im Fahrwasser Donald Trumps
Mileis Vorstoß lässt sich als typische Donald-Trump-Strategie verstehen – umso mehr, als sein Amtskollege in Washington bereits im Januar den Austritt aus der WHO vollzog. Milei versucht, die in der Bevölkerung tief verankerte Skepsis gegenüber internationalen Organisationen zu nutzen, um seinen Ruf als „Disruptor“ vor der eigenen und potenziell neuen Wählerschaft zu festigen. 2025 ist erneut Wahljahr in Argentinien: Im September stehen die Midterm-Elections an. Mit dem Austritt aus der WHO würde sich der Staat nach Regierungsangaben jährliche Verpflichtungen in Höhe von über 100 Millionen US-Dollar „sparen“. Argentinien ist seit 1948 Mitglied der Weltgesundheitsorganisation.
Milei und sein Team setzen derzeit darauf, den Rückenwind ihrer bisherigen Erfolge auf der wirtschaftspolitischen Front (Inflation, Haushalt, Verwaltung) zu nutzen und diesen in neue Stimmen umzumünzen. Seine Partei – La Libertad Avanza – hält gerade einmal 15 % der Sitze im Abgeordnetenhaus (Unterhaus) und kaum 10 % im Senat (Oberhaus). Die derzeitigen Umfragen lassen die Libertären jedoch hoffen, ihren Anteil fast zu verdoppeln. Auch die jüngsten Erfolgsmeldungen zielen in diese Richtung.
Leichterer Abwertungsanker
Am Montag kündigte die argentinische Zentralbank eine neue Runde im Kampf gegen die Inflation an. Nach knapp einem Jahr hat die Notenbank den fixen Abwertungssatz des argentinischen Pesos (AR$) gegenüber dem US-Dollar (US$) von monatlichen 2 % auf 1 % gesenkt. Das bedeutet, dass die als „crawling peg“ bekannte Strategie den monatlichen Abwertungsanker der Inlandswährung zur Leitwährung des US-Dollar halbiert. Das erklärte Ziel: Den seit Anfang 2024 erfolgreichen Druck gegen die Inflation weiter aufrechtzuerhalten.
Wirtschaftsminister Luis Caputo und Präsident Javier Milei hatten vor einigen Monaten den Schritt in Aussicht gestellt, sobald die monatliche Inflationsrate beständig unter 3 % fallen würde. Im Dezember konnten die Verantwortlichen Vollzug melden, nachdem das argentinische Amt für Statistik eine Inflationsrate von 2,7 % für den letzten Monat des Vorjahres vermeldet hatte.
Der „Abwertungsanker“ einer fixen und offiziellen Abwertungsrate des Peso pro Monat soll Spekulationen im Rahmen des volatilen Wechselkursverhältnisses, wenn nicht verhindern, so doch einschränken. Mit der bisherigen Rate von 2 % hatte das Team um Minister Caputo dem Markt immerhin einen relativen Anhaltspunkt geben können, wie sich die Inlandswährung zur Referenzwährung des Greenback entwickeln sollte. Bis Dezember 2024 pendelte sich der Wechselkurs bei AR$ 1.073 pro US$ ein.
Mit der neuen Vorgabe einer Teuerungsrate von 1 % pro Monat hoffen Zentralbank und Regierung, die Preissteigerung weiter zu verlangsamen. Das Ziel: die Inflation unter 2 % zu drücken. Das könnte nach Angaben privater Beratungsunternehmen jedoch erst im Mai erreicht werden: Nach einer von der Zentralbank veröffentlichten Umfrage zu den Markterwartungen (REM) erwarten Experten für den fünften Monat des Jahres eine Inflation von 1,9 %.
Ruhe an der Arbeitsfront – noch
Für zusätzliches Wasser auf Mileis Mühlen dürfte auch die derzeitige Lage auf dem traditionell konfliktgeladenen argentinischen Arbeitsmarkt sorgen. Im zweiten Halbjahr 2024 gab es durchschnittlich 14 Streiks pro Monat – die niedrigste Zahl seit 2006. Verglichen mit dem Höchststand von 47 Arbeitskämpfen im Jahr 2014 bedeutet das einen Rückgang um 71 %.
Das für argentinische Verhältnisse „ruhige“ Klima spiegelt sich auch auf den Straßen wider. „In der zweiten Jahreshälfte gab es durchschnittlich fünf Blockaden pro Monat. Das liegt klar unter dem Rekord des Jahres 2017 (Anm. d. Red.: In jenem Jahr legten Demonstranten jeden Monat 34 Mal argentinische Straßen lahm)“, zitiert die Zeitung La Nación eine Quelle aus dem Ministerium für Humankapital, dem das Sekretariat für Arbeit und Soziales untersteht.
„Der Rückgang der Arbeitskonflikte lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: gemeinsame Verhandlungen, die es ermöglichten, die Lohndiskussion aktiv zu halten, die Verlangsamung der Inflation, die eine rasche Erholung der Kaufkraft der Einkommen der registrierten Arbeitnehmer begünstigte, sowie die Schaffung formeller Arbeitsplätze im privaten Sektor“, zitiert La Nación die Quelle aus der Behörde.
Ein enger Handlungsspielraum
Wie sehr die Statistik den Plänen der Regierung helfen kann, hängt – wie immer im kurzlebigen Argentinien – von der Nachhaltigkeit dieser Tendenz ab. Auf Seiten der Inflation könnte alles nach Plan laufen, umso mehr, als sich die Zeichen mehren, dass das Wirtschaftsteam um Minister Caputo vielleicht schon in Kürze mit frischen Reserven rechnen kann.
Die Verhandlungen über ein neues Unterstützungspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF) stehen kurz vor dem Abschluss, was die immer häufigeren Fototermine zwischen Buenos Aires und Washington belegen. Der frische Kapitalfluss würde nicht nur die Stabilität der Geld- und Währungspolitik Caputos bekräftigen, sondern könnte auch das Vertrauen und Investitionsbereitschaft der Unternehmerschaft stärken.
Die Arbeitsmarktzahlen Ende 2024 hatten eine Delle bei Neueinstellungen aufgezeigt. Im November lag das Beschäftigungswachstum bei knapp 0 % (+2.400 Arbeitnehmer). Die private Gesamtbeschäftigung, die Beschäftigte des öffentlichen Sektors, Selbstständige, Einzelsteuerzahler und Hausangestellte in Privathaushalten umfasst, verzeichnete einen Rückgang um 0,1 % (-16.500). Die Zahl der Beschäftigten in Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern sank laut Arbeitskräfteerhebung im Dezember um 0,2 %.
Milei und sein Team wissen: Ihr Handlungsspielraum hängt gerade in diesem Jahr davon ab, einen konstanten Strom konkreter Fortschritte – vor allem in Bezug auf das Einkommen – aufrechterhalten zu können. Die Vorgabe, dass am Ende des Jahres das Bruttoinlandsprodukt um 5% gewachsen sein soll, ist für das argentinische Denken reine Makulatur. Argentinier denken und entscheiden aus schmerzlicher Erfahrung kurzfristig. Inflation und Arbeitsmarkt scheinen da bisher die solideste Grundlage. Der WHO-Austritt und das Trump-Gepolter bisher nicht.
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