Dienstag, 23. April: Ausnahmezustand im Zentrum der argentinischen Hauptstadt. Zwischen 14.30 und 19.00 Uhr dürfte der Verkehr zwischen dem Kongressgebäude und dem Regierungspalast Casa Rosada zum Erliegen kommen. Die größte Universität des Landes -die Universität von Buenos Aires (UBA) – hat zum Protestmarsch aufgerufen, um gegen die harschen Sparpläne der Regierung Milei zu protestieren. Rund 70 weitere Bildungseinrichtugen wollen sich dem heutigen Marsch anschließen. Das Motto: “Uneingeschränkter Bildungs-Zugang sowie ein langfristiger Strategieplan für eine qualitativ hochwertige Hochschulbildung “ Aus gegebenem Anlaß, veröffentlichen wir den Erlebnisbericht, den unsere Redaktionskollegin Elena Estrella Wollrad vor einigen Wochen zum Thema erstellte. Der Text wurde bereits am 2 April erstmals veröffentlicht.
Buenos Aires (AT) – Es ist sieben Uhr morgens und doch zeigt das Termometer bereits 20ºC an. Die U-Bahn-Wagons von Buenos Aires sind überfüllt, an diesem Morgen im März. Ein bisschen müde laufe ich durch die Straßen von San Telmo. Nach drei Jahren in Argentinien tragen mich meine Beine fast automatisch an mein Ziel: die Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität von Buenos Aires, kurz UBA. Hier studiere ich seit 2021 Kommunikationswissenschaften. “Es sind wenig Leute heute auf der Straße”, denke ich mir als ich eilig die Straße Santiago del Estero überquere. Ich bin spät dran. Doch ich schaffe es nur bis zur Tür. Die Uni ist zu. Die Präsenz-Vorlesungen sind ausgesetzt. Der Grund: das Geld ist alle.
Der Szene läuft derzeit nur in meinem Kopf ab. Sie ist entspricht -noch- nicht der Realität. Doch die Angst, dass es dazu kommen könnte, ist spürbar, unter uns Studenten*innen und dem Lehrpersonal.
UBA: Wiege von fünf Nobelpreisträgern
Mit mehr als 300.000 Studierenden -darunter 14.000 aus dem Ausland- ist die Universität de Buenos Aires, die größte Hochschule Argentiniens. Die Lehrerschaft verteilt sich auf mehr als 28.000 Professoren, wissenschaftliche Hilfskräfte und Assistenten. Trotz Einrichtungen, die mit ihrer eher abgenutzten Infrastruktur an den Glanz vergangener Tage erinnern, ist die UBA nach wie vor eine der renommiertesten Hochschulen in Lateinamerika.
Aus ihren Fakultäten stammen die fünf Nobelpreisträger Argentiniens (Anm. d. Red.: Carlos Saavedra Lamas, Friedensnobelpreis 1936; Bernardo Alberto Houssay, Medizin, 1947; Luis Federico Leloir, Chemie, 1970; Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreis, 1980; César Milstein, Medizin, 1984). Ihre Namen erinnern an eine Zeit erinnern in der die UBA und mit ihr die argentinische Wissenschaft zur globalen Elite gehörten. Immerhin: im letzten Jahr schaffte es die UBA auf den zweiten Platz des “Ranking QS” in der Kategorie “akademisches Ansehen”. Das Ranking QS bewertet jährlich mehr als 400 lateinamerikanische Universitäten zu Eigenschaften wie Qualität der Forschung, Beschäftigungsfähigkeit und Lernerfahrungen der Stundentenschaft sowie globales Engagement.
Doch von der Glorie ist derzeit nicht viel zu sehen. Im Gegenteil, die UBA ist unter Druck. Immer wieder, auch im Streik, wie zuletzt im März. Auslöser ist die Sparpolitik der Regierung Milei. Kurz nach Der Amtsübernahme fror die neue Regierung das Haushaltsbudget der UBA für 2024 auf dem Stand von Januar 2023 ein. Der Inflationssprung des vergangenen Jahre (+276%) blieb unberücksichtigt. Der Hochschulrat der Universität von Buenos Aires hatte schon im Februar seine “große Besorgnis” über die Haushaltslage der Universität zum Ausdruck gebracht. Mit einem solchen Budget könnte sie nur zwei Monate lang Vorlesungen finanzieren, erklärten die Verantwortlichen vor einigen Wochen gegenüber Infobae. Rund 57 staatliche Universitäten sind von der erwarteten Budgekürzungen betroffen.
“Kein Geld, kein Unterricht”
Die Vorlesungen der Universität von Buenos Aires beginnen früh morgens „cum tempore“. Es heißt, viele wenn nicht alle Seminare müßten in Kürze auf der Straße oder online stattfinden. Zu den Gerüchten gehört auch, dass die neue “Aula Magna” auf der Plaza de Mayo eingerichtet werden könnte, direkt gegenüber des rosafarbenen Regierungspalast, der Casa Rosada, wo Präsident Milei arbeitet.
Auf den Fluren der Fakultät, im Zentrum, hängen überall Plakate mit Aufschriften wie “Milei raus“, “Kein Geld, kein Unterricht“, “Sociales (Sozialwissenschaftliche-Uni) an vorderster Front“. Die Professoren scheuen sich nicht, offen über die wirtschaftliche Situation zu sprechen. Die Sorge ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Auch den Kommilitonen. Bei jeder Vorlesung betreten immer wieder Mitglieder des Studentenwerks den Klassenraum, um zu Demos und Streiks aufzurufen. Die Studierendenvertretung hat sich mit der Forderung der Lehrerschaft solidarisch erklärt. Auf ihren überlebensgroßen Plakaten fordert sie die “Verteidigung des öffentlichen Bildungswesens und der staatlichen Universitäten!”. Die Atmosphäre ist gespannt.
Das Prestige der Universität
Streiks unterbrechen deshalb immer häufiger die Lehrtätigkeit. Erst am 14. März hatte die Nationale Universitätsgewerkschaftsfront (FEDUN) zum jüngsten aufgerufen. Stunden vorher hatte das Ministerium für Humankapital eine Erhöhung des Universitätshaushalts um 70% angekündigt, um den Einrichtungen “zu helfen, ihre Betriebskosten decken zu können”. Mit der Kapitalspritze sollen die Universitäten den Anstieg von Strom-, Gas- und Wartungskosten stemmen können.
Trotzdem, das vorherrschende Gefühl in den Vorlesungsräumen ist Besorgnis. Selbst das Gespenst einer Privatisierung der im Jahre 1821 gegründeten staatlichen Hochschule geht um. Auch wenn sich das kaum einer vorstellen kann oder will.
Auch Paula (Anm. d. Red.: Name von der Redaktion geändert) kann das nicht. Sie ist schon fast am Ende ihres Soziologie-Studiums. Wohl könnte sie sich im Notfall eine private Universität leisten, doch ist das keine Alternative für sie. “Ich denke nicht daran. Ich glaube an die Qualität und das Prestige der öffentlichen Universitäten”. Deshalb beteiligt sie sich auch aktiv im Studentenwerk. Sie ist davon überzeugt, dass sich Studenten*innen und Lehrerschaft heute mehr denn je zur Wehr setzen müssen.
“Ich versuche positiv zu bleiben, aber das Thema beunruhigt”, erklärt auch Sabrina, die in ihrem dritten Studienjahr ist. Sie ist aus dem Inland extra nach Buenos Aires gezogen, um Kommunikationswissenschaften an der renommierten UBA zu studieren. “Es beunruhigt mich nicht nur, weil ich nicht sicher bin, ob ich dieses Semester beenden kann, sondern weil diese Maßnahme einen Angriff auf die Bildung, auf einen Teil der Gesellschaft, auf die Geschichte der UBA und meines Landes ist”, erklärt sie. Doch für sie ist auch klar: “Egal wie viel Macht die Regierung hat, die Gesellschaft ist mächtiger”.
Auch mir fällt es an diesem Dienstag morgen schwer, mir die Uni leer vorzustellen. Wenn man eine Weile auf dem UBA campus sitzt oder durch die Korridore spaziert, bekommt man einen Eindruck vom Reichtum der sozialen und kulturellen Vielfalt, die hier lebende Geschichte sind: überall Rucksäcke auf den Tischen, auf dem Boden; Mappen, die von einer Hand in die andere wandern; Thermoskannen, die frischen Mate aufgießen; es wird wild und laut diskutiert; dazwischen, Pappbecher mit Kaffee, Tee oder Wasser; Tätowierte und Untätowierte, kurze Haare, lange Haare, Fantasie-Frisuren aber auch -eher ungewöhnlich- Menschen, die allein durch die Uni gehen. Trotz aller Kürzungen und Spannungen pulsiert die UBA; auch nach mehr als 200 Jahren; noch.
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