09. 08. 2024

Buenos Aires / Stuttgart (AT)Frieder Gamm ist seit mehr als zehn Jahren als Berater in Argentinien unterwegs. Der CEO und Co-Founder von Frieder Gamm Group hat sich auf Verhandlungsführung im Spannungsfeld zwischen Einkauf, Vertrieb und Direktion spezialisiert. Seit 1999 berät der ehemalige Porsche-Mann weltweit Konzerne und Familienunternehmen, darunter auch viele der deutschen hidden champions. In Chile aufgewachsen, kam Gamm aus privaten Gründen nach Argentinien und blieb. Nicht nur wegen der Lebensart und Schönheit des Landes. “Hier lernt man wie wichtig die Mentalität ist; die Haltung, mit der jemand an die Dinge rangeht. Um so mehr, wenn es schwere Zeiten sind. Das `Wiederaufstehen´ ist nun einmal eine Mentalitätsfrage“, sagt Gamm.

Im Gespräch mit dem Argentinischen Tageblatt erklärt er was ihn an Lateinamerikas drittgrößter Volkswirtschaft begeistert aber auch was er selbst lernen mußte, um in einem so herausfordenden Umfeld Fuß fassen zu können. Mit der Erfahrung aus mehr als 20 Jahren Unternehmensführung zwischen Berlin, Chicago, São Paulo und Buenos Aires teilt Gamm seine Sicht auf den Neuanfang, den das Land und seine Wirtschaft heute durchmachen. Warum es dieses Mal klappen könnte, was deutsche Mittelständler und Familienunternehmen auf dem Schirm haben müßen, wenn sie auf Argentinien schauen, und was das alles mit einem Kühlschrank zu tun hat.

Argentinisches Tageblatt: Wo ist Frieder Gamm heute unterwegs?
Frieder Gamm: Ich war letzte Woche noch in Orlando und nächste Woche bin ich in Chicago und zwischendrin bin ich in Argentinien. Wir sind seit 2008, dem Jahr unserer Gründung als Frieder Gamm Group GmbH, auf der ganzen Welt präsent. Wir arbeiten mit Kunden wie Siemens, Daimler, Volkswagen, genauso wie mit Unternehmen wie Stihl oder Kärcher , also Mittelstand und Familienunternehmen; mit vielen weltweit. Und das seit 24 Jahren.

Was macht das Unterscheidungsmerkmal Ihres Unternehmens aus? Wo sind Sie zu Hause?
Wenn wir „Out-of-the-Box“ denken dürfen und um so größer die Herausforderung ist. Denn dann kann man Dinge machen, die man noch nie gemacht hat. Dann können wir kreativ sein und es wird bunt und anders als sonst. Auch die Ergebnisse.

Out-of-the-Box gehört in Argentinien schon fast zum „Geschäftsmodell“; heute mehr denn je. Als Verhandlungsexperte, der Sie sind, wie erleben Sie die „Anpassung“ von der menschlichen Seite aus? Was erleben Sie auf der Straße? Wie gehen die Menschen mit dieser Herausforderung um, die ihnen heute der Alltag auferlegt?
Ich habe hier in Argentinien drei Regierungen erlebt. Vor diesem Hintergrund erlebe ich zwei Wirklichkeiten. Auf der einen Seite spüre ich viel Hoffnung. Ich höre bei vielen, die sagen: „Ja, es wird hart und schwer. Doch wir haben Hoffnung, dass Milei das ordnen kann, was in den letzten Jahren keiner geschafft hat. Auf der anderen Seite erlebe ich einen Alltag, in dem die Preise keine Dimension mehr zu haben scheinen. Zum Beispiel: Ich brauche einen Kühlschrank für meine Wohnung und der günstigste, den ich finden konnte, kostet umgerechnet EUR 1.300. Vor einem Jahr waren es noch EUR 600.

Frieder Gamm, Berater
Foto: Gentileza FG.

Was machen diese Anstiege mit den Menschen in Argentinien derzeit?
Was ich hier in Argentinien gelernt habe, ist, dass diese harten Anpassungen sehr ungleich verteilt sind. Die Ärmsten bleiben arm, gleichzeitig erodiert der Mittelstand immer stärker. Wenn die sich einen Kühlschrank leisten wollen, müssen sie heute zwischen Schulgebühren und Kühlschrank entscheiden. Als Europäer sind uns dieser Art Entscheidungen noch fremd. Doch für die Menschen, die hier leben sind EUR 1.300 für einen Kühlschrank einfach nicht mehr tragbar, ohne radikale Abstriche zu machen. Für Menschen, die hier verdienen, haben EUR 1.300 eine ganz andere Größenordnung. Auch in den Unternehmen. Doch da wird häufig an der (falschen) Stelle gespart: der Kaffee wird storniert, das Toilettenpapier einlagig. Und das ist nicht der Weg der Besserung.

Warum, man spart doch?
Man spart, aber am falschen Platz. Wenn ich neu denken will, wenn ich kreativ sein will, um einen neuen Weg für mein Unternehmen zu finden, kann ich das nicht aus einer absoluten Notsituation heraustun. Ich muss den Mut aufbringen gerade gedanklich aus dem Überfluss heraus meine Situation neu zu definieren. Oder, um es mit Martin Luther zu sagen: „Aus einem traurigen Arsch, kommt kein fröhlicher Furz.“ Muhammed Ali hat es genauso gemacht: als er sich für den Kampf mit Foreman (Anm.d.Red.: Rumble in the Jungle) vorbereitet hat: Er alles nur nicht das gemacht, was Fans und vor allem sein Gegner erwarteten. Er hat sich getraut alles anders zu machen, ohne Rücksicht. Und das erleben wir hier gerade hier in Argentinien: eine Situation, die viel Mut erfordert, um sich aus der Box herauszudenken aber auch viele Möglichkeiten bietet. Und was wir gerade bei Kunden erleben, ist, dass sie im Spagat zwischen Alltag und Bürokratie ein wenig untergehen. Der administrative Aufwand ist größer geworden. Der tägliche Überlebenskampf ist sehr viel härter geworden.

Verhandlungsberatung ist Ihr wichtigstes Geschäftsfeld. Nun sind Mittelstand und KMUs in Argentinien nicht das, was sie in Deutschland, Österreich oder Schweiz sind. Welcher Unternehmensbereich fragt derzeit Ihr Angebot am stärksten nach?
Der Einkauf. Sicher auch weil ich selbst zehn Jahre bei Porsche im Einkauf gearbeitet habe und alle meine Trainer einen Einkaufs-Background besitzen. Das heißt, wir sind beliebt im Einkauf, weil die einem ehemaligen Einkäufer mehr glauben als einem Verkäufer. Man braucht nun einmal „Stallgeruch“, damit der Einkäufer einen akzeptiert. Deshalb sind auch 60% unserer Kunden aus dem klassischen Einkauf. Weitere 30% unserer Kunden kommen aus dem Vertrieb, der von einem ehemaligen Einkäufer verstehen wollen, wie der Kunde tickt. Hinzu kommen noch 10% Topmanagement.

Aus dieser Erfahrung heraus und wenn wir das ewige Thema Inflation einmal außen vor lassen, wo drückt der Schuh den in Argentinien tätigen Unternehmen am stärksten?
Bei den ausufernden Regularien etwa. Zum Beispiel, wir haben einen Kunden, der kann nicht produzieren, weil sein Lieferant es nicht geschafft, rechtzeitig die notwendigen Einfuhrregularien zu erfüllen, um ein Ersatzteil aus Brasilien nach Argentinien einzuführen. Das ist Protektionismus am falschen Platz. Dazu kommt der erwähnte „overload“ an Bürokratie, der die Ressourcen der Einkäufer unnötig in administrative Dinge einbindet. Ein Faktor, der dagegen deutsche Firmen und -töchter betrifft ist die ständige Erklärungsnot, in die sie die Zentrale zwischen Berlin, Wolfsburg, München oder Stuttgart immer wieder bringt. Da wir viel zu häufig noch mit einem deutschen mindset versucht, eine so komplizierte Situation wie die hiesige zu erklären. Aber auch, wenn eine deutsche Führungskraft zum ersten Mal nach Argentinien kommt und bemüht ist erst einmal alles so richtig „deutsch“ zu sehen (schmunzelt). Und dass, obwohl es genügend Beispiele von deutschen Führungskräften gibt, die sich nicht nur sehr gut angepasst haben, sondern auch das Beste aus beiden Welten zu verbinden gewusst haben.

Wer zum Beispiel?
Ich möchte keine Namen nennen, doch was ich sagen kann, ist, dass in den 10 Jahren, die wir hier in Argentinien arbeiten, von den CPOs (Anm. d. Red: Chief Procurement Officer – Chef-Einkäufer) eines deutschen Unternehmens, zwei absolut top waren; einer eine Fehlbesetzung und der letzte keine nennenswerten Spuren hinterlassen hat.

Stichwort: Lernen und verstehen. Was können deutsche Unternehmen von argentinischen Unternehmen trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Krise, gerade heute lernen?
Dazu ein kleines Erlebnis: vor einiger Zeit kam ein Freund aus Deutschland zu Besuch. Er ist im Iran geboren und gilt als ein Experte für Transformation; war lange Zeit bei BMW tätig. Er kam zum ersten Mal nach Argentinien. Und nach nur ein paar Tagen stellte er fest: hier funktioniert nicht viel, aber die Leute sind trotzdem -meistens (lacht)- guter Laune. In Deutschland funktioniert alles, doch dort laufen die Leute -meistens- mit einem langen Gesicht herum. Wenn man in Argentinien das Gespräch auf Messi lenkt, fangen die Augen an zu strahlen. Wer in Deutschland begeistert über Kroos spricht, muss sich rechtfertigen.

Frieder Gamm, Berater
Foto: Gentileza FG.

Das heißt?
Hier in Argentinien lernt man wie wichtig die Mentalität ist, die Haltung, mit der jemand an die Dinge rangeht. Um so mehr, wenn es schwere Zeiten sind. Das „Wiederaufstehen“ ist nun einmal eine Mentalitätsfrage.

Geht alles so wie es die Ley Bases vorsieht, könnten ausländische Investoren mittelfristig wieder leichter in Argentinien investieren, sich auch an Unternehmen beteiligen, wenn nicht sogar übernehmen. Was raten Sie als Berater: Worauf müssen deutsche Firmen dann achten?
Dazu wieder eine Analogie aus dem Fußball: In seiner Blütezeit beim FC Barcelona, hat Messi brilliert. Doch in der argentinischen Nationalmannschaft, selten oder nie. Der Grund ist für mich, dass er beim FC Barcelona seine argentinische Kreativität mit der europäischen Struktur kombinieren konnte; also das Beste aus beiden Kulturen zusammenfanden; der europäischen und der argentinischen. Wenn ein deutsches Unternehmen, das hier schaffen kann, dann kann es sehr viel bewegen. Das heißt, die deutschen Rahmenbedingungen zu schaffen – und damit meine ich unsere positive Leidenschaft für Prozesse-, die sich mit der hiesigen Kreativität und Innovationsbereitschaft vereinen lassen und diese vielleicht sogar fördern; das kann ein tolles win-win geben. Das spannende ist, dass Argentinier -gerade auch die jungen- dafür eine angeborene Grundlage haben: einen offenen Geist, der eher international oder auch europäisch geprägt ist. Die würde ich mir als Mittler holen, als Brückenbauer zwischen beiden Kulturen. Zum Beispiel bei der AHK-Joven, gibt es einige mit denen zusammenzuarbeiten, es eine Freude ist. Die können beide Seiten zusammenbringen.

Zum Abschluss, zwei Empfehlungen für deutsche Unternehmen, die gerade nach Argentinien schauen und zwei Empfehlungen für argentinische Unternehmen, die sich wieder trauen nach Deutschland (DACH) zu schauen?
Empfehlung für die deutschen Firmen ist, wenn man hier Erfolg haben möchte, braucht man einen mindset der „2+2= 4“ definiert, aber auch 3 oder 5 als Ergebnis akzeptiert (lächelt). Der zweite Tipp: Wenn ich von Deutschland aus versuche, in Buenos Aires, einen Termin zu vereinbaren und schreibe vier Wochen vorher, bekomme ich meistens keine Antwort. Wenn ich aber da bin und mich von vor Ort melde, auch von einem Tag auf den anderen, steigen die Chancen, den Termin zu bekommen, um das Zehnfache. Das heißt, Du musst hier, vor Ort, sein, sonst geht das nicht. Selbst wenn ich versuche, es mit Vertretern, die hier vor Ort sind, aber nicht ich, wird es kompliziert. Man muss einfach hier sein. Und auch wichtig: immer am Netzwerk arbeiten. Hier geht nichts ohne Kontakte. Wenn man die hat, geht alles. Und, nicht aufgeben: Ich bin seit zehn Jahren in Argentinien tätig und ich glaube dran, dass der schlafende Riese irgendwann aufwacht, und dann will ich hier sein.

Und für Argentinier?
Ähnlich nur anders: wenn sie mit einem Produkt nach Deutschland kommen, braucht es die richtigen Vermittler, die richtigen Einkäufer eben. Die kalte Akquise kann sehr schnell ins Leere laufen. Und, sich trauen: das heißt, die besten Produkte nehmen und einfach anfangen. Auch in Deutschland braucht man Kontakte, aber vor allem braucht man Qualität. Ohne die geht nichts.

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