03. 10. 2023

Vor über 100 Jahren in Buenos Aires gegründet zählt die Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer (AHK Argentinien) heute über 350 Mitglieder. Darunter alles was Rang und Namen hat in der deutsch-argentinischen Unternehmenslandschaft. Die lokalen Geschäftsführer von DHL, Lufthansa und Bayer gehören ebenso dazu wie die von Volkswagen, Commerzbank, Kärcher oder Wintershall. Seit July 2023 ist Claudia Boeri ihre Präsidentin. Die erste seit Gründung der Kammer im Jahre 1917.

Im Gespräch mit dem Argentinischen Tageblatt erzählt sie wie sich ein Unternehmen führen läßt wenn die Münze jeden Monat 10% ihres Wertes einbüßt. Die SAP-Chefin gibt einen Einblick in Eigenschaften und Stärken, die jede und jeder CEO mitbringen sollten, um am Rio del la Plata nicht nur zu überleben sondern auch zu wachsen. „Die ständige Krise gehört zum Tagesgeschäft, aber auch die Chancen“, erklärt die gelernte IT-Ingenieurin, die vor SAP bei Oracle und Sun Microsystems Karriere machte.

Aus der Erfahrung der AHK heraus, was können wir für den argentinischen Markt im Jahr 2024 erwarten?

Den argentinischen Markt zu analysieren ist immer eine Herausforderung. Um so mehr im Rahmen eines Wahljahres; und noch mehr in 2023. Die Erfahrung lehrt uns aber, dass es selbst in einem Umfeld wie dem jetzigen immer Chancen gibt. Das Geheimnis liegt darin, die langfristige Perspektive nie aus den Augen zu verlieren; so komisch es klingen mag. Sie ist es, die uns in dem ständigen Auf- und Ab hilft, neue Tendenzen zu erkennen, um in so wechselhaften Marktverhältnissen wie den hiesigen richtig zu reagieren. Gekoppelt an eine ständige Wachsamkeit würde das als Grundregel für den argentinischen Markt. Denn hier heißt es schnell auf den Füßen sein. Dann ergeben sich auch die neuen Geschäfts-Chancen.

Wo sind diese heute zu finden?

Ein gutes Beispiel ist etwa der Einzelhandels-Sektor. Dort schaffen es die Unternehmen dank ihrer langen Erfahrung in einem hoch inflationärem Umfeld, sich den Bedürfnissen der Konsumenten immer neu anzupassen, damit diese ihr Geld möglichst gewinnbringen investieren können, bevor es dem Wertverfall zum Opfer fällt. Und so schaffen es diese Anbieter auch, ihrer eigenen mittelfristigen Zielvorgaben zu erfüllen. Ein anderes Beispiel ist der Energiesektor: Stichwort Vaca Muerta. Nicht nur Erdöl- oder Erdgasproduzenten profitieren heute von dem boom rund um das Shale-Gas und Shale-Öl-Vorkommen im nördlichen Patagonien. Von den Förderstellen in der 30km2 großen Region bis in die Hauptstadt und in den Norden Argentiniens hinein, profitiert heute die gesamte Energie-Wertschöpfungskette von dem Wachstum rund um Vaca Muerta. Etwas ähnliches beginnt sich beim Thema Lithium abzuzeichnen. Dort steigt die Nachfrage und das Interesse sowohl im Ausland als auch zunehmend im Inland. Das sind nur einige Beispiele.

Welche drei skills sind es, die es heute ermöglichen in der argentinischen Wirtschaft bestehen zu können?

Zunächst und vor allem, die Bereitschaft, ständig in den Markt hineinzuhören und diesen zu „lesen“. Also so gut wie möglich und so nah wie möglich am Puls des Marktes zu sein. Das ermöglicht es den Tendenzen ein wenig voraus zu sein oder im Notfall sich kurzfristig anpassen zu können. Und dieses “hineinhören” muß ständig geschehen, nicht nur einmal im Quartal.

Und das heißt, zweitens, zu akzeptieren, dass man ständig im dual mode agieren muß: langfristig denken und doch ständig für den kurzfristigen Kurswechsel bereit sein. Der Einzelhandel und seine Dienstleister schaffen es, die Nachfrage aufrecht zu erhalten nicht etwa aufgrund immer neuer Sonderangebote sondern dank einer Produktpalette, die sich ständig zu erneuern versteht. Und das trotz Inflation, Importverbot und anderen Barrieren. Auch verschuldet sich der argentinische Unternehmer wenige als andere. Nicht nur weil es aufgrund der Krisen in Argentinien an Kreditangeboten fehlt; auch wel er und sie gelernt haben, daß wenig Passiva in der Bank, Wendigkeit schaffen, um unabhängig von finanziellen Zwängen schnell und kurzfristig neu auszurichten.

Die dritte Eigenschaft ist, das Ökosystem aktiv zu nutzen. Erfolgreiche lokale CEOs nutzen und nähren die Unternehmensgemeinschaft wo sie können. Nicht weil es zum guten Ton gehört sondern weil sie verstanden haben, dass wir viel leichter gemeinsam durch jede Krise kommen als im Einzelkämpfermodus. In der AHK etwa, ist das eine unserer Hauptaufgaben: Bindeglied zu sein über dem sich unsere Mitglieder austauschen können und voneinander lernen können. Und das angereichert mit den best practices aus Deutschland. Das Resultat ist ein Ökosystem, das lokal denkt aber global durchsetzt ist.

Wir sprachen es eben an: Leider ist Argentinien heute eher durch seine wirtschaftspolitischen Konditionierungen bekannt, denn durch Chancen wie Vaca Muerta, seiner Biotechnologie oder für sein Potential an Innovationen und Entrepreneuren. In ihrem Fall, als CEO von SAP Argentina, welches ist die Frage die Ihnen heute den größten Erklärungsbedarf nach Deutschland abverlangt?

Wie Sie ganz richtig sagen: über Inflation sprechen wir nicht mehr viel. Das ist ein leider ein ständiges Problem. Was neu ist in diesem Jahr ist das Ausmaß des Wertverfalls und vor allem wie sich dieser gegenüber der Belegschaft auswirkt. Das ist derzeit eine meiner Hauptaufgaben. Wir haben das Glück, dass die argentinischen Entwickler und Programmierer mit den zu den besten der Region wenn nicht sogar der Welt gehören. Doch in dem global Dorf in dem wir heute leben, stehen wir eben auch im globalen Wettbewerb. Jeder kann heute von zu Hause aus, offshore arbeiten. Das Talent zu halten, ist deshalb heute eine unsere größten Herausforderungen.

Die sogenannte “Ökonomie des Wissens”, also das Spannungsfeld zwischen Kreativität und Innovation, gehören zu den hidden talents, die Argentinien zu bieten hat. Insbesondere im IT-Bereich, wie Sie es ja bei SAP bereits nutzen. Was fehlt, damit das Potential auf breiterer Basis der gesamten Wirtschaft zugute kommen kann?

Das Argentinien ein pool für IT-Talent ist, ist nicht nur in der DACH-Region bekannt sondern darüber hinaus. Wenn man bedenkt, in welchem Umfeld die argentinischen Unternehmen agieren, kann es einen nur verwundern, dass das Land so viele neue Einhörner pro Jahr hervorbringt. Der Begriff der Ökonomie des Wissens ist heute nichts neues. Was aber vielleicht doch fehlt ist es den Sektor nicht nur punktuell zu fördern, sondern zu strategisch auszubauen.

Was heißt das konkret?

Es gilt in die Tiefe zu gehen. Das heißt, die gesamte IT-Wertschöpfungskette stärker auszubauen und integral zu entwickeln. Das heißt den Sektor als eigene Industrie zu behandeln. Bei Ausbildung und Forschung sind wir Weltklasse, wage ich zu behaupten. Doch auf der Angebotsseite und im weiteren Umfeld der Wertschöfungskette können wir noch viel mehr machen, um die Marktteilnehmer viel enger zu verzahnen und so ihre Wirkung zu skalieren. Ein Beispiel ist die Industrie 4.0: Längst entwickeln wir in unseren SAP-Labs hier in Argentinien -aber auch in Brasilien- Dienstleistungen, die wir weltweit anbieten. Wir bedienen von Argentinien aus Unternehmen auf der ganzen Welt. Doch auf der mittleren Unternehmensebene auch hier in Argentinien ist Industrie 4.0 immer noch ein Fremdwort. Wenn es seitens der Regierung möglich wäre, dieses Potential im Rahmen eines integrierten Industriekonzeptes klarer sichtbarer zu machen, könnte die lokale IT-Industrie eine Zugwirkung in Gang setzen, die der gesamten Wirtschaft zu Gute kommen würde. Der Energie-Sektor rund um Vaca Muerta / Lithium sind das beste Beispiel was das heißen kann.

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