Buenos Aires (AT) – Javier Milei startet -wieder einmal- eine Woche der Entscheidungen in seiner noch jungen Amtszeit als Präsident von Argentinien. In diesen Tagen wird eine neue Version seines „Ley de Bases“, einem aus mehreren Normen bestehenden Gesetzes-Paket im argentinischen Parlament neu verhandelt. Milei hatte versucht die erste Version des sogenannten Omnibus-Gesetzes im Januar -damals noch bestehend aus 664 Gesetzes-Artikeln – durch den Kongress zu peitschen. Ernüchtert vom politischen Nahkampf und nicht bereit sich auf immer neue Kompromisse einzulassen, zog Milei nach wenigen Wochen die Reißleine und legte die Initiative im Februar auf Eis.
Jetzt, auf 220 Artikel abgespeckt und nach wochenlangen Konsultationen mit Abgeordneten, Provinzgouverneuren und Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft hofft die Regierung auf mehr Glück. Sollte es beim zweiten Anlauf klappen, würde das breite Bereiche der argentinischen Wirtschaft neu regeln; darunter Transport, Energie, Unternehmensfinanzierung aber auch den Arbeitsmarkt, eines der schwersten Altlasten der argentinischen Wirtschaft.
Der gelernte Anwalt Daniel Funes de Rioja kennt das Machtgefüge zwischen Wirtschaft und Politik in Argentinien wie nur wenige. Funes de Rioja ist seit Jahrzehnten zwischen Arbeitgeberverbänden aus Industrie, Ernährung und unterwegs. Heute, ist der Partner der Anwaltskanzlei Bruchou & Funes de Rioja Vorsitzender des einflussreichen argentinischen Industrieverbandes (UIA, Unión Industrial de Argentina), einem Organ, das in seiner Rolle dem Bund der Deutschen Industrie (BDI) vergleichbar ist. Auf Arbeits- und Unternehmensrecht spezialisiert, vertritt Funes de Rioja außerdem den Verband der argentinischen Ernährungsindustrie (COPAL), ist Vorsitzender der Kommission für Arbeitsrecht der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) und auch Co-Chair des deutsch-argentinischen Unternehmerausschusses.
Kurz gesagt: Funes de Rioja hört das Gras wachsen an der Schnittstelle zwischen Unternehmen, Politik und Handel in Argentinien. Bekannt für seine Analyse aber auch für seine Vermittlungsarbeit hinter den Kulissen, ist der heute 78jährige Jurist ein gesuchter Gesprächspartner von Unternehmern, Gewerkschafts-Bossen als auch Regierungen. Auch Präsident Milei konsultierte mit Funes de Rioja in den letzten Wochen. Das Thema: die Folgen der harten Neuordnung der Wirtschaft; die Zuspitzung der sozialen Krise und natürlich die Aussichten der neuen Version des Omnibus-Gesetzes. Zum Start der Debatte sprach Argentinisches Tageblatt mit Funes de Rioja und bat ihn um seine Lage-Einschätzung.
Argentinisches Tageblatt: Argentiniens ist derzeit für viele ein noch größeres Rätsel als gewohnt: die Rezession vertieft sich, die Armut wächst, die Kosten sind explodiert, doch die Inflation fällt. Zudem meldet die Regierung Milei kontinuierliche Haushaltsüberschüsse und die Beliebtheit des Präsidenten steigt. In diesem Spannungsfeld, wie und wo stehen die argentinischen Unternehmen?Daniel Funes de Rioja: Vorab will ich nur betonen, dass es heute zum ersten Mal eine klare und konkrete Kursangabe für unsere Wirtschaft gibt. Das sind: freier Wettbewerb, der Schutz der Privatinitiative und eine klare Ausrichtung an der westlichen Welt. Das ist auch das, was das neue Gesetzespaket, dass jetzt im Parlament neu durchdiskutiert wird, sucht. Vor diesem Hintergrund ist die hohe Steuerbelastung, der Unternehmen, eines unserer größten Sorgen. Wir wissen, dass das nicht von einem Tag zum anderen abgeschafft werden kann. Doch liegt hier auch der Grund warum wir gleich zu Beginn, uns einer weiteren Erhöhung der Ausfuhrgenehmigung von 15% versperrt haben (Anm. d. Red.: die Regierung hatte im Dezember ein Erhöhung der Abgaben auf Exporte angekündigt).
Nun sind Kosten und Preise seit Dezember zum Teil um mehr als 500% in die Höhe geschossen. Allein die Bauindustrie ist im März um 40% im Vergleich zum letzten Jahr eingebrochen. Die Gehälter sind dagegen größtenteils gleichgeblieben. Was macht das mit den Unternehmen?
Richtig ist, dass es im Gegensatz zu früheren Jahren keine zwangsläufige Anpassung der Gehälter gegeben hat. Doch hat die Regierung den Tarifparteien freie Hand gegeben, sich Sektorspezifisch zu einigen. Auch hier gibt es eines immer vor Augen zu haben, dass es in der argentinischen Wirtschaft von Sektor zu Sektor schwerer oder einfacher sein kann. So haben etwa Handel und Banken jeweils nur einen Sektorübergreifenden Tarifvertrag auszuhandeln, während es in der Industrie zu rund 800 unterschiedliche Tarifverhandlungen kommt. Um die Lage hier richtig einschätzen zu können dürfen wir aber auch nicht vergessen: in Argentinien ist die Unternehmensgröße sehr ungleich verteilt. Wenige große und multinationale Unternehmen, mischen sich mit einem im Vergleich zu anderen Ländern überdurchschnittlich großen Anteil mittleren und kleinen Unternehmen (Anm.d. Red.: nach Angaben des Observatorio de Empleo y Dinámica Empresarial (OEDE) verteilt sich die Struktur wie folgt: 69% Mikro; 23% Kleine; 6% Mittlere und 2% Großunternehmen). Logischerweise wirken sich da die Arbeitskosten auf den einen ganz anders als auf den anderen aus. Bis Juni werden wir sehen wie stark und resilient, jeweils jeder sein kann. Hinzu kommt die Herausforderung, die die informelle Beschäftigung uns auferleg, also diejenigen Beschäftigten, die nicht unter dem Schutz von Tarifvereinbarungen stehen.
Inwiefern?
Vor allem die Krise der letzten Jahre hat zu einer Ausweitung dieser informellen Beschäftigung geführt wie nie zuvor. (Anm. d. Red.: rund 46% der Beschäftigten in Argentinien standen Anfang 2023 in einem informellen Arbeitsverhältnis). Dagegen stagnierte die formelle Beschäftigung und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Grund ist die erwähnte hohe Steuerlast, die heute auf einen immer kleiner werdenden formellen Arbeitsmarkt der Wirtschaft lastet.
Eines der Achillesfersen der argentinischen Wirtschaft ist eben das Arbeitsmarktmodell, dass sowohl juristisch als auch organisatorisch auf den Grundlagen der 70er und 80er Jahre basiert. Welche Chancen haben die Änderungen, die ab nächster Woche im Parlament zur Abstimmung kommen können, hier was zu ändern?
Unsere Wirtschaft ist darauf angewiesen, den Kreislauf der Produktionsmodernisierung unter Einbeziehung der Industrie 4.0 endlich vollziehen zu können. Und zwar nicht nur im Energiesektor oder dem Bergbau, sondern auch in der Wissens-Wirtschaft, also die Service und Dienstleistungen, die aus Digital-Wirtschaft des 21 Jahrhunderts resultieren. Diese wird in Zukunft an vorderster Front stehen und andere Wertschöpfungsketten maßgeblich beeinflussen, wenn nicht mitziehen. Doch die Modernisierung ist nicht nur eine Frage von Maschinen und Menschen. Es muss auch um eine grundlegende Steuerreform gehen. Es geht einfach nicht an, dass allein die erwähnte formelle Beschäftigungskette, sechs der sieben wichtigsten Steuergruppen zu tragen hat. Auch die Arbeitsmarktreform duldet keinen Aufschub mehr, um der Modernisierung der Arbeit Rechnung trägen zu können. Und da spricht die neue Regierung eine klare Sprache. Vor diesem Hintergrund enthielt der erste Entwurf der Reforminitiative (Anm. d. Red: im Januar 2024) viele wertvolle Neuerungen.
Politiker und vor allem Gewerkschaften haben die Vorlage des ersten Entwurfes vor der Justiz zum Erliegen gebracht. Warum hätte die neuerliche Vorlage bessere Chancen durchzukommen?
Bereits beim ersten Entwurf war es die herrschende Meinung in der Unternehmerschaft, dass er eine Vision verkörperte, an der niemand auf der Welt mehr vorbei gehen kann. Und auch die Gewerkschaften -selbst wenn sie jetzt erneut einen Streik für den 9. Mai angekündigt haben- erkannten an, dass die Richtung stimmte. Um so mehr, als wir uns auf eine Arbeitswelt zubewegen, die alles andere als geregelt ist. So wie bisher geht es nicht mehr. Nach den Änderungen und Verhandlungen der letzten Wochen und Monate gehe ich deshalb davon aus, dass die Chancen jetzt besser stehen, um im Parlament die entsprechenden Mehrheiten zusammenzubringen. Um so mehr, als es bereits Sektoren gibt, die zeigen, dass man auch in Argentinien das Beschäftigungsmodell zeitgenmäßen Standards anpassen und neu denken kann.
Nach den Änderungen und Verhandlungen der letzten Wochen gehe ich davon aus, dass die Chancen jetzt besser stehen, um im Parlament die entsprechenden Mehrheiten zusammenzubringen.
Welche sind das?
In der Ölindustrie haben Arbeitgeber und Gewerkschaften ein Modell entwickelt und umgesetzt, dass etwa das Wachstum von Vaca Muerta (Anm. d. Red: die Shale-Oil und -Gas-Region in Patagonien) ermöglichte. Das gleich Bild zeigt die hiesige Automobilindustrie, wo die Modernisierung des Beschäftigungsverhältnisses ein Wachstum begründet hat. Doch das vielleicht jüngste Beispiel ist die Regelung der Beschäftigten von Lieferdienste; Stichwort „Plattformarbeit“. Trotz des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde, haben es Unternehmen und Vertretungen geschafft, sich nicht in einen starren Rahmen pressen zu lassen, sondern, wie anderswo auf der Welt auch, ein Modell zu finden, dass es ihnen beiderseitig erlaubt, sich den wechselnden Bedingungen des Marktes anzupassen.
Trotz der schweren Rezession, die der Reformkurs der Regierung ins Rollen gebracht hat, zeigen die makroökonomischen Fundamentaldaten erste Hoffnungsschimmer auf. Unter Analysten steht die Debatte, ob die Erholung einem „V“-Muster oder eher einem „L“ folgen könnte. Was erwarten Sie?
Die Erfahrung zeigt für Argentinien mehr V als L. Außerdem sollten wir den Wunsch der Bevölkerung nicht unterschätzen, ein für alle Mal, diese wiederkehrenden Krisen hinter uns zu lassen. In jedem Fall ist die Inflation das Thermometer, dass uns die Höhe des Fiebers anzeigen wird und damit der Schwere der Krankheit, der wir tatsächlich gegenüberstehen. Maßgebend wird hier die Kontrolle öffentlicher Ausgaben, wie es den letzten Monaten mehr als deutlich unterstrichen haben. Denn, wir brauchen einen Staat, der präsent sein muss; doch dabei nicht allwesend ist, sondern effizient.
Die Inflation ist das Thermometer, dass uns die Höhe des Fiebers anzeigen wird und damit der Schwere der Krankheit, der wir tatsächlich gegenüberstehen.
Argentinien hat in den letzten Wochen einige Plätze gut gemacht in verschieden Investment-Rankings. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Banco Galicia, die größte Bank des Landes, für rund US$ 500 Millionen die lokalen Geschäfte von HSBC übernimmt. Vor diesem Hintergrund, welchen Ratschlag geben Sie ausländischen Investoren? Was müssen sie in den nächsten Monaten im Blick haben, wenn sie den Standort Argentinien beobachten?
Es ist bekannt, dass Argentinien im heutigen geopolitischen Umfeld eine große Chance darstellt. Insbesondere in Bereichen wie Bergbau, Energie oder Landwirtschaft und Ernährung. Investoren sollten jedoch immer nach dem Mehrwert suchen, den sie mit ihren Investitionen in diesem Land schaffen können. In Argentinien leben 45 Millionen Menschen. Die Herausforderungen, die wir stemmen müssen, lassen sich nicht durch allein durch mehr Einkommen oder mehr Sozialleistungen überwinden. Grundlage müssen mehr Produktion und menschenwürdiger Arbeit sein. Das ist der Garant, damit sich Argentinien in den globalen Wertschöpfungsketten verankert wiederfinden kann.
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