31. 07. 2025

Buenos Aires – Mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron drückte er einst die Schulbank und ist heute befreundet. Mit der verstorbenen US-Außenministerin Madeleine Albright verbanden ihn gegenseitiger Respekt und gemeinsame Werte. Trotzdem ist Marcelo Scaglione kein Mann, der das Rampenlicht sucht. Und das, obwohl er Grund dazu hätte: Der heutige Unternehmer, Berater und Akademiker kann auf eine der wichtigsten außenpolitischen Leistungen verweisen, die Argentinien in seine jüngeren Geschichte erzielt hat.

Scaglione war bis 2020 Unterhändler Argentiniens bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Vor allem ihm ist es zu verdanken, dass Lateinamerikas drittgrößte Volkswirtschaft Anfang 2024 vermelden konnte: „Die Mehrheit der OECD-Mitglieder stimmt dem Beitritt Argentiniens zu.“

Verhandlungsgeschick, eine tief verankerte Frustresistenz sowie eine über Jahre hinter den Kulissen der internationalen Politik entwickelte Dialogfähigkeit sind das Kapital, mit dem Scaglione in weniger als vier Jahren das beinahe Unmögliche schaffte: Argentinien – einst Serien-Bankrotteur der 1970er-, 80er- und 90er-Jahre – das Mindestmaß an Glaubwürdigkeit zurückzugeben, das es dem Land ermöglichte, sich um die Aufnahme in den elitärsten Kreis der Staatengemeinschaft zu bewerben – und damit Erfolg zu haben.

Nach dem Jahresende 2024 stehen noch fünf Jahre Wartezeit an, in denen Argentinien die letzten Prüfungen durchlaufen muss. Doch bereits die Annahme des Antrags Anfang 2024 und die Übergabe des sogennanten “Fahrplans” gilt als inoffizieller Ritterschlag.

Wenige Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens zwischen dem Mercosur und der Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), bestehend aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, sprach Marcelo Scaglione mit dem Argentinischen Tageblatt exklusiv. Warum der jüngste Deal auch in Brüssel für willkommenen Druck sorgt gerade in Zeiten der Zollkriege mit den USA. Und: Warum die OECD sich in seine Lebensaufgabe verwandelt hat.

Argentinisches Tageblatt: Vor wenigen Wochen hat die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur abgeschlossen. Das legt den Grundstein für einen gemeinsamen Markt mit 300 Millionen Menschen. Auch wenn es noch von den Parlamenten der einzelnen Länder ratifiziert werden muss, hat das Abkommen zeigt der deal schon jetzt Wirkung: Selten häuften sich die Meldungen über unmittelbare Neuigkeiten zwischen Mercosur und der Europäischen Union wie in diesen Tagen.
Marcelo Scgalione: Das ist tatsächlich ein großer Schritt. Denn das Abkommen mit der EFTA – vier europäischen Ländern mit sehr hoher Kaufkraft – schafft auch den Schub für die Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens, zumindest im Handelsbereich, der für Unternehmen besonders relevant ist. Es untermauert noch mehr die Hoffnungen, dass auch das Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Mercosur während der brasilianischen Präsidentschaft im Dezember genehmigt und von Präsident Lula auf dem Gipfeltreffen angekündigt werden kann. Insbesondere angesichts des Kurswechsels in Frankreich und nach den jüngsten Aussagen von Präsident Macron bei seinem Treffen mit Lula da Silva.

Der handelspolitische Teil muss lediglich vom Europäischen Rat genehmigt werden. Damit tritt dieser Teil des Abkommen bereits am Tag nach der Genehmigung in Kraft.

Was bedeutet das konkret für die Unternehmen?
Wie Sie wissen, hat das Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur drei Dimensionen oder Pfeiler: die Handelsdimension, die Kooperationsdimension und die politische Dimension. Die Handelsbefugnisse liegen bei der Europäischen Kommission. Im Unterschied zu den anderen beiden, muß dieser Teil des Abkommens nicht von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Der handelspolitische Teil muss lediglich vom Europäischen Rat genehmigt werden, da er in die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission fällt. Diese Zuständigkeit wurde von den Mitgliedstaaten an die Kommission übertragen.

Was muß dafür im Europäische Rat geschehen ?
Der Europäische Rat, bestehend aus den 27 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, muss mit einer qualifizierten Mehrheit von mindestens 15 Ländern zustimmen, die zusammen mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren. Gleichzeitig darf es keine Sperrminorität von mindestens fünf Ländern geben. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind und der Rat den Handelsteil des Abkommens genehmigt, tritt dieser Teil des Abkommens bereits am Tag nach der Genehmigung in Kraft.

Marcelo Scaglione, OCDE Mendoza, Paris
Bei der OECD in Paris mit dem Gouverneur der Provinz Mendoza, Alfredo Cornejo.

Was heißt das für die Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks?
92 % der im Abkommen ausgehandelten Zollpositionen für Mercosur-Unternehmen werden sofort aktiviert und es beginnt ein Zeitraum von 10 bis 15 Jahren, in dem europäische Industrieprodukte in den Mercosur eingeführt werden können. Für die Mercosur-Produzenten heißt das, dass sie ab dem ersten Tag ihre Produkte, Waren und ihr geistiges Eigentum in der EU vermarkten können. Aber mit den Privilegien kommt auch die Verantwortung: Mit Inkrafttreten beginnt der Zeitraum, in dem sie ihre Prozesse und Produkte an die europäischen Standards angleichen müssen. In jedem Fall, ist es eine großartige Entwicklung – nach über 25 Jahren Verhandlungen stehen wir kurz vor der Verabschiedung des größten Handelsabkommens der Welt – ein Abkommen, das 800 Millionen Verbraucher zusammenführt.

Ein weiterer laufender Prozess ist der Beitritt Argentiniens zur OECD. Das Land erhielt den sogennante “Fahrplan” Anfang 2024. Was bedeutet das konkret?
Zunächst einmal handelt es sich um einen Prozess, den wir bereits vor neun Jahren angestoßen haben. Argentinien hat seine Kandidatur im Mai 2016 eingereicht und erhielt 2024 den offiziellen Fahrplan. Die OECD ist ein Club von 38 Ländern, darunter Deutschland, die 75 % der globalen Investitionen und 60 % des Welthandels auf sich vereinen. Dieser Club setzt internationale Standards in den Bereichen Institutionen, Produktion, Humankapital und Umwelt. Der Beitritt zur OECD ist eine Herausforderung – vor allem in einer globalisierten und angespannten Welt wie der heutigen.

Wird dieser Fahrplan für jedes Land individuell erstellt?
Ja. Für Argentinien und Brasilien ist der Fahrplan allerdings identisch, da beide Länder vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Das Dokument umfasst rund 40 Seiten und beschreibt alle Prüfungen, die ein Land bestehen muss – im Fall Argentiniens sind das 26 Ausschüsse. Unser Fahrplan ist damit deutlich umfassender als jener Kolumbiens, das nur 23 Ausschüsse durchlaufen musste.

Warum hat Argentinien nicht schon früher den Beitritt angestrebt?
Ich möchte nicht auf ideologische Gründe eingehen. Aber ein Hauptproblem war sicher die Unwissenheit und das Fehlen langfristiger staatlicher Strategien. Argentinien hat sich – auch nach der Rückkehr zur Demokratie – nie auf ein übergreifendes nationales Ziel verständigt. Staats-Politik bedeutet ja, sich zu fragen: Was für ein Land wollen wir sein? – und sich dann, über die Parteigrenzen hinweg zu verpflichten, dieses Ziel auch unter wechselnden Regierungen zu verfolgen. Daran mangelt es uns, und genau hier setzt die OECD mit den Werten, die sie vertritt.

Staats-Politik bedeutet, sich zu fragen: Was für ein Land wollen wir sein? – und sich dann, über die Parteigrenzen hinweg, darauf zu verpflichten.

Welche Werte sind das und wie können sie in einer zunehmend instabilen Welt wirken?
Demokratie, Freiheit, Menschenrechte im weitesten Sinne und soziale Marktwirtschaft. Diese Grundwerte sind verbindlich für alle Mitgliedsländer. Man sollte nicht vergessen: Die Gründungsstaaten der OECD waren 1961 keine reichen Länder – sie waren vom Zweiten Weltkrieg zerstört. Vor allem Deutschland und Österreich wissen das. Seither hat sich die OECD als ein sehr geeignetes Instrument erwiesen, um Ländern in weniger als 25 Jahren den Übergang von der Unterentwicklung zur Entwicklung zu ermöglichen.

Wo beginnt man mit dieser Wertearbeit?
Man beginnt mit der Definition eines Ziels: Wo will man hin? Welche Rolle will man in der Welt einnehmen? Welche Lösungen will man bieten? Die OECD verlangt ein klares nationales Leitbild – etwas, das Argentinien seit Jahrzehnten fehlt. Heute gibt es eine Regierung, die den freien Markt als zentrales Ziel betrachtet. Das ist ein Anfang.

Marcelo Scaglione, Emmanuel Macron
Mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron verbindet Marcelo Scaglione eine Freundschaft, die bis in die Schulzeit zurückreicht.

Wie lange haben andere Länder der Region für diesen Weg gebraucht?
Chile schaffte es in sechs Jahren – allerdings war das Land in besserer Verfassung als Argentinien und hatte weniger Herausforderungen. Kolumbien brauchte acht Jahre. Wenn Argentinien es in sieben Jahren schafft, wäre das bemerkenswert. Man muss aber verstehen: Dieser Prozess kann nicht in einer einzigen Präsidentschaft abgeschlossen werden.

Was bringt ein OECD-Beitritt konkret?
Er kann langfristig zu jährlichen Einsparungen von bis zu 10 % des BIP führen. Mexiko konnte allein durch Verfahrensvereinfachungen innerhalb von zwei Jahren rund 3 % seines BIP einsparen – etwa 18 Milliarden US-Dollar. Deregulierung bedeutet, den Staat zu verschlanken und gleichzeitig Bürger, Unternehmen und den Privatsektor zu entlasten, damit sie Wohlstand schaffen können.

Wie wirkt sich das auf das tägliche Leben aus?
Die OECD zeigt in Studien, dass in Lateinamerika öffentliche Beschaffungen oft 10–15 % des BIP ausmachen – in Argentinien also rund 60 Milliarden US-Dollar. Diese Ausgaben sind häufig mit Mehrkosten von 25 % belastet, oft wegen Korruption oder Kartellabsprachen.

Welche Rolle spielen Unternehmen und Provinzen in diesem Wandel?
Eine zentrale. Unternehmer können nicht nur zuschauen – sie müssen aktiv mitgestalten. Transformation braucht Führung, und die kommt nicht nur von der Regierung. Sie muss auch aus der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft kommen – sowohl national als auch in den Provinzen. Dort fehlt oft noch das Bewusstsein. Führung ist entscheidend.

Kurzfristiges Denken reicht hier nicht. Der kulturelle Wandel ist zwingend notwendig. Und das bedeutet: Raus aus der Komfortzone – die in Wahrheit gar keine ist.

Welche Vorteile hat ein Unternehmer konkret?
OECD-Mitgliedschaft bedeutet Zugang zu internationalen Märkten mit einheitlichen Standards. Es schafft Vertrauen. Wer kein Mitglied ist, hat es schwerer, Geschäfte mit anderen OECD-Ländern zu machen.

Wie kann sich die argentinische Wirtschaft langfristig darauf einstellen?
Kurzfristiges Denken reicht nicht. Der kulturelle Wandel ist zwingend notwendig. Und das bedeutet: raus aus der Komfortzone – die in Wahrheit gar keine ist. Vielleicht bedeutet das weniger Schlaf und mehr Zeit für Zukunftsstrategien. Argentinien hat viele Lösungen, die die Welt braucht – in Zeiten von Kriegen, Energie- und Ernährungskrisen. Es produziert Lebensmittel, Energie, besitzt strategische Rohstoffe für Elektromobilität, hat eine führende Luft- und Raumfahrtindustrie in Lateinamerika und zwölf Tech-Einhörner. 2024 wurde mit österreichischer und belgischer Beteiligung das modernste Sägewerk Lateinamerikas eröffnet. Deutschland investiert in grünen Wasserstoff. Die Chancen waren selten größer.

Wie nachhaltig sind tiefgreifende Reformen in einem Land wie Argentinien – gerade mit Blick auf die Zwischenwahlen?
Die größte Herausforderung der Regierung ist nicht die Inflation, sondern die Nachhaltigkeit der Reformen. Sie zeigt Mut, hat aber Schwächen in der Umsetzung und wenig Rückhalt im Parlament. Trotzdem hat sie in knapp zwei Jahren mehr bewegt als viele Regierungen in fünf.
Ein positiver Trend: Es entstehen regionale Führungsfiguren. Argentinien war stets zentralistisch geprägt, doch der Reichtum des Landes liegt in den Regionen – nicht in der Hauptstadt. Die föderale Struktur wird bislang weder in der Steuerverteilung noch in der Gesetzgebung ausreichend abgebildet.

Sehen Sie da eine Veränderung?
Ja. In Patagonien beispielsweise arbeiten Gouverneure verschiedener Parteien zusammen an langfristigen Projekten. Auch in der Zentralregion (Córdoba, Entre Ríos, Santa Fe) gibt es ähnliche Initiativen. Das entspricht dem Paradigmenwechsel, den die OECD fordert: weg von der Idee eines „fixen Kuchens“, hin zu einem wachsenden Kuchen, von dem alle profitieren.

Warum haben Sie persönlich den OECD-Beitritt zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht?
Ich war schon immer an internationaler Politik interessiert und wollte zur globalen Integration Argentiniens beitragen. Als (Mauricio) Macri gewählt wurde, war ich in der Privatwirtschaft in Brasilien tätig. Man bat mich, den OECD-Beitrittsprozess zu leiten – ich sah darin eine historische Chance. Ich kündigte, kehrte nach Argentinien zurück und sagte: „Lasst uns diesen Weg beginnen.“ Acht Jahre später haben wir den Fahrplan. Jetzt plane ich die nächsten acht Jahre, diesmal außerhalb der Regierung. Denn ich bin überzeugt, dass sie heute alle notwendigen Voraussetzungen dafür hat, dieses Ziel zu erreichen.

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