08. 02. 2024

Buenos Aires (AT) – Das umstrittene Omnibus-Gesetz von Javier Milei, das bereits allgemein angenommen worden war, geht auf null zurück. Nach einer Reihe von Gegenstimmen zum Gesetzentwurf beschloss die Regierungspartei am Mittwoch in der Abgeordnetenkammer, die Initiative an die Ausschüsse zurückzuschicken und die Sitzung zu vertagen. In diesem Rahmen organisierte die Stiftung Verbundenheit eine Online-Diskussion zum Thema „Argentinien nach der Präsidentschaftswahl – Wohin steuert Argentinien unter Präsident Javier Milei?”. Über Facebook Live-Stream versammelte die 2004 gegründete NGO Spezialisten, um die aktuelle Situation in Argentinien und den damit verbundenen Paradigmenwechsel zu analysieren. 

Moderiert von Dr. Marco Just Quiles, dem stellvertretenden Geschäftsführer und Projektleiter Lateinamerika der Stiftung Verbundenheit, diskutieren hierüber der Journalist und Chefredakteur des Argentinischen Tageblatts, Flavio Cannilla, der ehemalige FAZ-Korrespondent und Wirtschaftsexperte, Carl Moses, die Vertreterin der deutschsprachigen Gemeinschaft, Silvia Saenger und die Unternehmerin Cristina Arheit-Zapp, Vorstandsmitglied der Deutsch-Argentinischen Industrie- und Handelskammer. 

Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch ein Grußwort von Thomas Kropp, ehemaliger Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Argentinien und Mitglied der Lateinamerika-Gruppe des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU und Vorstandsmitglied der Stiftung Verbundenheit. Er eröffnete das Online-Seminar mit einigen Gedanken zum Thema. Bezüglich der neuen Regierung sagte er: “Als ich in der Wahlnacht die Euphorie hunderttausender Menschen, insbesondere junge Menschen, auf den Straßen von Buenos Aires gesehen habe, merkte ich, dass hier etwas ganz Spezielles im Gange gekommen ist.” 

Die Teilnehmer sprachen danach zu drei Themenschwerpunkten: die aktuellen sozio-poilitische Lage, die Zukunft für die in Argentinien tätigen Unternehmen sowie welche Rückschüsse dieser Umbruch in anderen Länder, wie zum Beispiel Deutschland, hat.

Die sozio-politische Lage

Fotos vom Generalstreik, Protesten und der Polizei bilden Argentiniens Gegenwart in der ganzen Welt ab. “Das Land ist in Bewegung”, so Flavio Cannilla. “Javier Milei hat mit seinen ersten zwei Monaten viele “heilige Kühe” der argentinischen Wirtschafts- und Sozialpolitik angegriffen. Und das reicht vom Arbeitsrecht, über die Subventionspolitik bis hin zu Energie-, Handels- und Haushaltspolitik. Ein Mittel, mit dem er das angegangen ist, ist zum Beispiel das Omnibus-Gesetz, das in diesen Tagen so heiß debattiert wird.” Der heutige Chefredakteur des Argentinischen Tageblattes erinnerte damit an die Privilegien und vested interests, die Milei mit seinen jüngsten Maßnahmen -so auch das 366 Artikel starke Sammeldekret, das der Präsident am 21. Dezember veröffentlichte- abzuarbeiten gedenkt. Der Journalist gab jedoch auch zu bedenkten, die Bilder aus der Hauptstadt nicht zwingendermaßen mit dem Geschehen im ganzen Land gleichzusetzen: “Buenos Aires ist immer ein Resonanzkasten gewesen. Deswegen sieht man so viele Demonstrationen und Bewegung auf den Straßen. Doch in Anbetracht der Rosskur, die die neue Regierung dem Land zumutet, ist es bewundernswert, wie resilient die Argentinier sind und wie sehr sie diesen Wechsel -noch- mittragen”.

Für eine regionale Perspektive wurde Silvia Saenger, die in Misiones lebt, über die Auswirkungen der neuen Regierung in ihrer Provinz im Norden Argentiniens befragt. Misiones ist 1.200 km von Buenos Aires, dem Brennpunkt, entfernt. Bezüglich Cannillas Perspektive aus Buenos Aires äußerte die Argentinierin: “In unserer Provinz haben wir zwar wenige Proteste, aber viele Probleme”. Sie nannte als eins der Beispiele den fehlenden Zuschuss für öffentlichen Nahverkehr und sprach von einer “Mega-Inflation”, gegen die die Zivilgesellschaft kämpfen muss. Jüngsten Schätzungen zufolge liegt die Inflationsrate im Jahresvergleich in Argentinien bei 238%. Als Milei am 10. Dezember sein Amt antrat lag sie bei 143%, so das National Amt für Statistik, Indec.

Cristina Arheit-Zapp, die Leiterin des Maria Luisen Kinderheims, gab als Leiterin einer NGO aber auch Unternehmerin ihre Meinung folgendermaßen wieder: “Die Horrorszenarien, die man Milei vor der Wahl angebunden hat, kann ich bis jetzt nicht sehen. Im Gegenteil, als NGO haben wir im Kinderheim unsere Unterstützung vom Staat zum ersten Mal in Jahren pünktlich und inflationsangepasst erhalten”. Darüber hinaus sagte Frau Arheit-Zapp : “Ich sehe vom sozialen Bereich aus, dass die jetzige Regierung versucht, die Armen aufzufangen, natürlich reicht das nicht, doch man hat sie nicht ganz vergessen.” Als Unternehmerin äußert sie sich zum Thema Unternehmertum unter der Wirtschaftskrise. “Fast alle kleinen Unternehmen verzeichnen Verlust”, so Arheit-Zapp. Sie machte deutlich, dass es auch für die Unternehmer keine Veränderung auf Knopfdruck geben würde.

Mileis pragmatische Außenpolitik

Javier Milei setzt auch bei der Außenpolitik neue Akzente. Wie der Journalist und Unternehmensberater Carl Moses betonte, positionierte das neue Staatsoberhaupt Argentinien schon kurz nach seiner Amtsübernahme klar im westlichen Lager und hier besonders in der Nähe der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union (EU) und Israel. “Milei ist Pragmatiker”, so Carl Moses in der Online-Konferenz. Bezüglich dem Austritt des Staatenbund BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) gab er deshalb auch zu bedenken: “Milei weiß, dass er sich mit den wichtigsten Handelspartner, die nun mal Brasilien und China sind, verständigen muss”. Darüber hinaus erklärte Moses: “Ideologisch ist Milei eindeutig dem Westen gebunden” und errinerte an Mileis Absicht, das EU-Mercosur-Abkommen “so schnell wie möglich, unter Dach und Fach zu bringen”. In Richtung deutsche Bundesregierung empfahl der ehemalige FAZ-Korrespondent deshalb: “Hört nicht auf das was Milei sagt, sondern schaut auf das was er macht”. 

Gegen Ende der Diskussionsrunde unterstrich Moderator Marco Just Quiles zunächst die Wichtigkeit dieser Debatten: “Es zeigt, was für ein großer Schatz zwischen Argentinien und Deutschland herrscht. und das Potenzial, um die Brücken zwischen beiden Ländern jeden Tag zu stärken”. 

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Flavio CannillaVon

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