Buenos Aires / Stuttgart (AT) – Stuttgart kann sich in den nächsten zwei Tagen als Wirtschafts-Hauptstadt Lateinamerikas in Europa sehen. Hier, im Herzen Baden-Würtenbergs, hat der Lateinamerika-Verein zu seinem 74. Lateinamerika Tag geladen. Im edlen Haus der Wirtschaft wollen Mitglieder, wie Siemens, VW oder BASF aber auch eine stetig wachsende Zahl an KMUs und hidden champions, mit Vertretern zahlreicher lateinamerikanischer Staaten sprechen, diskutieren und beraten. Die Veranstalter erwarten über 300 Teilnehmer. Die Schwerpunkte: Wie deutsche und deutschsprachige Unternehmen sich im Rahmen der Zeitenwende bei Energie, Ernährung, Bergbau aber auch bei Innovation, IT und Wissensökonomie neu aufstellen können indem sie Länder wie Chile, Argentinien, Brasilien, Peru oder Kolumbien wieder in den Fokus ihrer Investitionen stellen.
Im Gespräch mit dem Argentinischen Tageblatt erklärt Orlando Baquero, geschäftsführender Präsident der vor 107 in Hamburg gegründeten Organisation, exklusiv wo es reelle Chancen gibt aber auch wo es noch Nachholbedarf gibt, damit Unternehmen und Regierungen auf beiden Seiten des Atlantiks, die Potentiale ausnutzen können, die eine sich neu ordnende Welt bietet.
Sie haben den diesjährigen LAV-Tag unter anderem entlnag nach drei klar differenzierten Bereichen und Wertschöpfungsketten geordnet: Bergbau & Food, für den Raum der Andenstaaten; Energie, für den Southern Cone; sowie Boutique-Märkte für die gesamte Region. Warum?
Wir sollten diese Einteilung nicht absolut sehen, da es in allen Ländern der Region player gibt, die in mehr als einem dieser Sektoren tätig sind. Und selbstverständlich können wir auch nicht in so kurzer Zeit, die Lage völlig durchleuchten. Doch haben wir diese Bereiche gewählt, da es diejenigen sind in denen wir im letzten Jahr nicht nur von Unternehmen wie Siemens oder Volkwagen um Rat gebeten wurden sondern insbesondere von Kleinen und Mittelständischen Unternehmen (KMU), darunter auch viele der deutschen hidden champions.
Wie stark sind die Anfragen gerade der KMUs gestiegen?
Rund 50%. Darunter sind wie gesagt Unternehmen, die über ein Umsatzvolumen von 40 Millionen Euro bis hin zu einer Milliarde Euro verfügen. Also die gesamte Bandbreite des deutschen Mitellstands.
Gehen wir ins Detaill: Welches sind die größten Anliegen deutscher Unternehmen, um ihre Präsenz etwa im lateinamerikanischen Bergbau auszubauen?
Im Bergbausektor sind zum Beispiel deutsche Bergbau-Unternehmen so gut wie nicht präsent in Lateinamerika. Wohlgemerkt, natürlich gibt es deutsche Rohstoffeinkäufer und Maschinen-Hersteller doch reine Bergebau-Unternehmen nicht. Die noch in Deutschland existierenden Unternehmen dieser Art waren in den letzten Jahren auf andere Regionen fokussiert. Und es wäre jetzt ein guter Moment, das zu ändern: zum einen erschöpft sich zunehmend der offene Tagebau in der Region. Zum anderen, vollzieht sich gerade in Ländern wie etwa in Chile und Perú ein Paradigmenwechsel im Bergbau.
Wo geht der hin?
Weg von der traditionellen Rohstoffabbau hin zu einem nachhaltigen Geschäftsmodell. Und hier liegt eine große Chance gerade für deutsche Maschinenbauer. Denn wohl können diese preislich nicht mit chinesischen Wettbewerbern mithalten. Doch wenn es um nachhaltige Abbau-Technologien und Maschinerie geht, sind sie nicht zu schlagen und können jetzt von der Neuausrichtung in Lateinamerika massiv profitieren. Zum Beispiel, eine der größten peruanischen Minen, Las Bambas, war bis vor kurzem geschlossen. Doch jetzt, soll der Betrieb wieder aufgenommen werden und zwar allein auf der Grundlage eines Geschäftsmodells, das die Nachhaltigkeit ins Zentrum stellt.
Im Falle des Southern Cone, also Argentinien, Chile, Paraguay, und Uruguay: Welche Herausforderungen erkennt das LAV dort für die Energiewertschöpfungskette?
Insbesondere in den unterschiedlichen Ansätzen zur Nutzung dieser Energiequellen. Und hier richten sich heute alle Augen natürlich besonders auf drei Bereiche: Vaca Muerta mit seinem Shale-Gas und -Öl; Lithium sowie den erneuerbaren Energiequellen plus Wasserstoff. Und im Gegensatz zum Bergbau sind hier deutsche Unternehmen bereits stark vertreten. Allerdings, jedes Land hat seinen eigenen Ansatz. Diese Unterschiede und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, möchten wir im Einzelnen heute und morgen durchleuchten. Insbesondere für KMUs, die nicht über Mittel verfügen wie etwa eine Siemens, die sich in Projekten wie Solar und Wind-Energie engagiert oder eine Winteshall in Vaca Muerta und vor Tierra del Fuego.
Wo gibt es hier Erklärungsbedarf gegenüber den Unternehmen?
Ein gutes Beispiel ist der Wasserstoff. Da gehen, zum Beispiel, Chile und Argentinien unterschiedliche Wege gehen. Beide durchaus verständlich doch braucht es Kenntnis und Erfahrung, um zu verstehen welches für das eine oder das andere Unternehmen nützlicher ist. In jedem Fall gilt es, das Modell zu suchen bei dem die Produktion des Wasserstoffs mittels der günstigsten Energieform erfolgt. Da können wir die Bindegliedfunktion übernehmen, um Nachfrage und Angebot zwischen deutschen Unternehmen und Southern Cone-Anbietern -sowohl privaten wie auch der öffentlichen Hand-, zu erleichtern. Denn gerade in Ländern Lateinamerikas wechseln Minister, Sekretäre und andere sehr viel häufiger als in Europa. Beispiel Lithium: alle wollen dabei sein, doch die Vorkommen sind größtenteils schon vergeben. Wo eröffnen sich also Türen, damit deutsche Unternehmen, und hier vor allem kleinere, sich in die Wertschöpfungskette einfügen können.
Reduziert sich alles auf Rohstoffvorkommen?
Absolut nicht. Zum Beispiel, wissen die wenigsten, dass die billigste Form der Energiegewinnung heute in Lateinamerika nicht unbedingt in der Erschließung neuer Energiequellen liegt sondern in der Reparatur oder Instandsetzung der Grids und Transportleitungen. Auch hier kann Deutschland eine Vorreiterrolle spielen.
Wechseln wir die Blickrichtung: Wo liegen die Chancen für lateinamerikanische Unternehmen im deutschsprachigen Europa? Welche Hausaufgaben müssen diese noch erfüllen?
Es ist vielleicht eine Mischung aus dem, was die EU machen kann, um lateinamerikanischen Unternehmen zu helfen, dem großen Normen- und Regulierungsaufwand nachkommen zu können, den die EU auferlegt. So könnten sich lateinamerikanische Unternehmen eher dazu aufraffen, das Notwenige zu tun, um diese Auflagen zu erfüllen. Das würde dem Wettbewerb in Europa und damit dem Verbraucher entgegenzukommen. Auf der anderen Seite, muss man auch den Lateinamerikanern empfehlen, von sich aus, die Anstrengungen zu unternehmen, um die EU-Richtlinien zu erfüllen und Zugang zum EU-Markt zu erhalten. Es gilt einfach weniger kurzfristig zu denken. Denn, wohl ist es heute leichter und schneller auf einem weniger regulierten Markt – wie beispielsweise dem asiatischen – Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Doch genauso sicher ist es, dass Normen wie das Lieferkettengesetz, das Entwaldungshinderungsgesetz oder auch die CO2-Abgabenvorlagen bald weltweit gültig sein können. Wir leben schließlich auf dem gleichen Planeten und der Verbraucher fordert zunehmend diese Vorgaben ein. Zudem, wer einen Platz nicht besetzt, gibt den Raum frei, damit ein anderer es tut. Der Fruchtsektor ist ein gutes Beispiel: Dank seiner zahlreichen Außenhandelsabkommen mit asiatischen Partnern hat sich Chile bei seinen Fruchtexporten stark auf den asiatischen Markt konzentriert. In der Zeit konnte Perú sich auf dem europäischen Markt etablieren.
Was noch?
Ein anderer Aspekt ist es die Zusammenarbeit innerhalb der lateinamerikanischen Wertschöpfungsketten zu erhöhen. Da ist noch viel Nachholbedarf. Zum Beispiel: der neue Überseehafen, der derzeit in Chancay, Perú gebaut wird, wird hauptsächlich den chinesischen Markt bedienen. Die meisten Pazifikhäfen Lateinamerikas werden ihm zuliefern. Warum lässt sich so etwas nicht auch für einen Markt wie Europa erarbeiten? Das würde sowohl Investitionen anziehen als auch die Wettbewerbsfähigkeit regionale Anbieter massiv verstärken.
Sie waren unter anderem CFO zahlreicher Unternehmen: wo müssen die lateinamerikanischen Unternehmen aber auch der öffentliche Sektor am stärksten nachlegen, um die Chancen dieser sich neu ordnenden Welt -Stichwort Zeitenwende- auszunutzen?
In der Planungssicherheit. Wie sie richtig sagen bringe ich die Erfahrung aus Jahren der Finanzplanung in unterschiedlichen Unternehmen mit. Wir wissen wie Risiko geht: es Alltag im Finanzsektor. Jeder CFO muss in jeder Situation mit einem gewissen Maß an Risiko rechnen und kalkulieren. Heute haben wir zunehmen Mittel, um uns vor diesem Risiko zu schützen, ihn praktisch in unserer Kalkulation einzupreisen. Sei es über einen Versicherer oder über ein anderes Finanzinstrument. Das Risiko ist also für uns nicht das Problem. Das Problem ist die Instabilität.
Wo ist der Unterschied?
Ganz einfach. Beispiel Populismus: In Lateinamerika wächst er zunehmend. In Perú gab es in den letzten Jahren fünf verschiedene Staatspräsidenten. Auch Argentinien stellt uns jeden Tag vor ein neues Rätsel in der Hinsicht. Was jeder Unternehmer braucht, um seine Investitionen in die eine oder andere Richtung zu schicken ist ein gewisses Maß an Klarheit, an Berechenbarkeit. Und diese kommen durch eine gewisse -und ich sage nicht absolute- institutionelle Ordnung; also klaren und vorhersehbaren Spielregeln, die den jeweiligen Markt über einen Zeitraum berechenbar machen. Das beste Beispiel ist Paraguay. Warum glauben Sie, dass dieses Land, das einst eines der ärmsten der Region war, heute immer größere Investitionen erhält? Weil es seinen Investoren eine Planungshorizont von zehn Jahren garantiert. Damit kann man planen. Das ist die Sicherheit, die man braucht. Das Gegenbeispiel: leider wieder Argentinien. Das Land hat heute multiple Wechselkurse. Und selbst das ist nicht ungewohntes für einen Unternehmer oder CFO. Es gibt genügend Werkzeuge, um einen instabilen Wechselkurs in meine Planung aufzunehmen. Doch ich kann leider nicht mit jemandem kalkulieren, der mir die Abschaffung des Währungshüters in Aussicht stellt. Die Abschaffung der Zentralbank läßt sich nun einmal nicht in einem Excel-Sheet einpreisen.
Das Mercosur-EU-Abkommen, hat welche Chancen?
(Lacht). Es ist ein Karussell der Emotionen. Über Jahre hinweg hieß es, das wird nichts. Und dann auf einmal: nächstes Jahr unterzeichnen wir. Dann wieder nichts. Zum Glück hat die spanische EU-Präsidentschaft hier einiges in Bewegung gesetzt. Verschieden europäische Staaten haben ihre Widerstände verringert. In Frankreich etwa kann sich Emmanuel Macron nicht mehr zur Wiederwahl stellen. Doch jetzt ist es der Mercosur, der leider nicht mehr an einem Strang zieht. Ich glaube, wenn es nicht zu einem unterzeichnetem Abkommen -nicht ratifiziert doch zur Ratifizierung vereinbart- noch unter der spanischen Präsidentschaft bis Dezember kommt, geht es wieder in die Warteschleife.
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