01. 08. 2024

Buenos Aires (AT)Buenos Aires in den 80er Jahren. Die Polizei Autos bestimmen das Straßenbild. Es herrscht Stille. Die Militärjunta regiert. Inmitten dieser unruhigen und mysteriösen Situation reisen Yvan De Wiel, Teilhaber eines Schweizer Bankhauses, und seine Frau Inés von Genf nach Buenos Aires. Nach dem plötzlichen Verschwinden seines Geschäftspartners muß Yvan De Wiel nach Argentinien, um sich um das liegengebliebene Geschäft zu kümmern und trifft dabei auf die argentinische Elite. 

Filme über die argentinische Militärdiktatur (1976 – 1983) gibt es viele. Doch “Azor”, das Spielfilmdebüt des schweizer Regisseurs Andreas Fontana, bietet eine ganz eigene Perspektive, eine, die in Spielfilmen selten vorkommt: die der Oberschicht, der “Aristokratien”. Der Film schildert das angespannte Klima und die Unterdrückung, in dem die Menschen damals lebten. Auch der argentinischen Elite war das Gefühl der Beklemmung nicht fremd, unter dem das Schweigen oftmals das beste Mittel war, um sich vom Grauen der Diktatur, zu schützen. 

Andreas Fontana ist ein erfolgreicher schweizer Filmregisseur und Drehbuchautor. Geboren 1982 in Genf, studierte an der Universität seiner Stadt Vergleichende Literaturwissenschaft. 2021 auf der Berlinale prämiert, kam die schweizer-argentinische Koproduktion “Azor” in die Schweizer Kinos. Aus Anlass des heutigen Schweizer Nationalfeieretages unterhielt sich das Argentinische Tageblatt exklusiv mit dem Regisseur.  

Argentinien im Jahr 1980 aus der Sicht eines Schweizer Bankiers, der das repressive Klima der damaligen Zeit nicht so recht wahrhaben will.

AT: Sie waren im Alter von 12 Jahren in Argentinien waren und mit 18 Jahren noch einmal. Welche Beziehung haben Sie zu Argentinien? 
Andreas Fontana: Ja, ich war als Kind dort, aber zu Besuch in Patagonien, und kehrte erst als Erwachsener  wieder zurück. Zwischen diesen beiden Besuchen gab es eine Art Bindeglied mit Freunden, die plötzlich nach Argentinien reisten und die ich als Teenager kennenlernte. Ich habe keine Verwandten dort. Deshalb könnte man sagen, es ist und war einerseits eine Art emotionale Bindung, andererseits eine völlig exotische Fantasie von einem sehr weit entfernten Ort, fast wie ein Land der Abenteuer für mich. Jahre später kehrte ich zurück, und begann, eine konkrete Bindung zu entwickeln, das heißt, ich schloss Freundschaften, ich machte Feldstudien während meines Literaturstudiums, und aus der romantischen Fantasie entwickelte sich etwas viel konkreteres. Argentinien hat eine sehr starke Kultur der Fiktion, sowohl in der Literatur als auch im Film, und für mich, der sich dafür interessiert, ist es deshalb ein wichtiges Land. Außerdem hatte ich während meines Studiums in Genf eine argentinische Professorin, die mich für ein Studienprojekt nach Buenos Aires schickte, in eine Art Filmemacher-Gruppe. 

Ihr Film “Azor” wird im Internet als Drama, aber auch als Politthriller beschrieben? Wie würden Sie ihn definieren?
Ich denke, der Film spielt mit dem Genre, ohne Zweifel. Ich bin eher ein Fan von Thrillern als von Dramen, einfach weil Dramen oft ein bisschen weihevoll sind. Der Thriller kann spielerisch sein, sogar lustig, und trotzdem seine Spannung bewahren. Das hat auch mit meiner  eigenen Idee zu tun, mit der Paranoia einer Figur und mit der Welt als eine Art Terrain, dessen Gesetze völlig rätselhaft sind, zu arbeiten. Dass man nicht alles ganz versteht, was die Leute denken, was sie wollen usw. Das ist ein bisschen Teil meiner Welt, und es ist eher ein Thriller als ein Drama

Der Film erforscht die Rolle der schweizer Banker während der Militärdiktatur in Argentinien.

Wie ist die Idee hinter Azor entstanden? Was hat Ihr Interesse an Argentinien und seiner Geschichte geweckt? 
Alles begann mit der Entdeckung eines Reisetagebuchs, das ich von meinem Schweizer Großvater fand. Mein Großvater reiste als Banker nach Argentinien, wohl eher, um seine Freunde in Argentinien zu besuchen. Sie machten in den 80er Jahren, mitten in der Diktatur, eine Art Rundreise durch Argentinien. Das Kuriose daran war, dass er nicht über die Diktatur sprach. Er sprach über die Swimmingpools, die Grillpartys, die Mittagessen, die Häuser, eine Art mondäner Beschreibung Argentiniens, der High Society, aber er erwähnte die Diktatur nicht. Das weckte mein Interesse. Ich begann zu recherchieren. Im Jahr 2008 kehrte ich nach Argentinien zurück und begann mit den Vorbereitungen für den Film. Aber in diesem Zusammenhang war ich sehr neugierig, weil mein Großvater in dem Notizbuch über seine Begegnung mit einem Mann aus dem Schweizer Kreis sprach, Ernesto Alemán. Er hat viel über ihn gesprochen. Ich traf damals nicht Ernesto, der bereits verstorben war, dafür aber 2015 seinen Sohn, Roberto Alemán. Das Gespräch mit Roberto war für mich wichtig, um ein bisschen besser zu verstehen, wie und was die Menschen während der Diktatur gedacht haben; diese erlebt haben.

Es ist ein anspruchsvoller Film, ein Schweizer Film, mit dem Ansatz eines Schweizer Protagonisten, das heißt, ein anderer und fremder Blick.

Wie sehr kann ein Notizbuch ein Neugier auf die Geschehnisse während der Diktatur in Argentinien wecken?
Natürlich wusste ich, was passiert war. Ich komme aus einer Familie, die politische links stand, und interessiere mich für Geschichte. Ich hatte also hatte also schon viel über die Diktatur gelesen und recherchiert. Aber vor allem interessierte es mich, da ich auch aus der Schweizer Oberschicht stamme, ein politisches Ereignis aus einer ungewohnten Perspektive zu betrachten, nämlich aus der Perspektive dieses Klassenbewußtseins. Wovor hatten diese Menschen Angst? Woher kam diese Angst? Wie sieht man eine Situation von dort aus? 

Andreas Fontana während den Dreharbeiten in Buenos Aires, Argentinien.

Obwohl der Film fiktiv ist, ist die Geschichte dahinter real. Wie waren die Recherchen zu diesem Thema? 
Auf meiner Reise nach Argentinien habe ich viele Menschen und ihre persönlichen Geschichten kennengelernt. Am Anfang hatten viele Leute einen Bezug zur Schweizer Gemeinschaft, weil es für mich mit den Kontakten meines Großvaters einfacher war. Ich war in Tandil, in Pilar, na ja, sagen wir, es war eine Art Feldforschung, als wäre ich Anthropologe, aber als Amateur. Ich habe zudem viele Professoren getroffen und viel gelesen. Es waren wirklich zweieinhalb Jahre Forschung. Die Premiere des Films fand 2021 auf der Berlinale in Deutschland statt, aber der Film wurde Ende 2019 gedreht, kurz vor der Pandemie. Im Jahr 2022 wurde er in Argentinien aufgeführt, und zwar just zum Día de la Memoria (Tag des Gedenkens), am 24. März. Ich habe sehr gute Kritiken erhalten. Es ist ein anspruchsvoller Film, ein Schweizer Film, mit dem Ansatz eines Schweizer Protagonisten, das heißt, ein anderer und fremder Blick auf die argentinische Diktatur.

Wie war ihre Erfahrung mit der argentinischen Filmindustrie? 
Das argentinische Kino ist ohne Übertreibung eines der besten, die es derzeit gibt. Jetzt ist es in großer Gefahr durch die Regierung, die diese Meinung nicht zu teilen scheint. Es ist eines der besten Kinos und hat eine sehr starke Industrie, in der die Menschen sehr gut arbeiten. Aber abgesehen davon, dass sie gut arbeiten, sind sie sehr flexibel und agil. Die Argentinier haben die Angewohnheit, sich immer an Planänderungen oder Probleme anzupassen. Diese Flexibilität ist sehr wichtig und wertvoll für jemanden wie mich, der seinen ersten Film macht. Es ist ein intensives Abenteuer. Aber ich betone, dass das argentinische Kino heute in Gefahr ist: es ist sehr wichtig, dass die Leute verstehen, dass es sehr schwierig ist, ein Kino wieder aufzubauen, wenn es einmal zerstört ist. 

Die Hauptrollen bestetzen Stephanie Cléau und Fabrizio Rongione (rechts auf dem Bild).

Was sind die Unterschiede zwischen der schweizerischen oder europäischen Filmindustrie und der entspannteren argentinischen Filmwelt?
Ich würde nicht sagen, dass Argentinien entspannter ist. Argentinien ist leistungsfähiger. In der Schweiz gibt es eine verschlafene Industrie. Es gibt eine Art “Superioritätssyndrom”, das völlig falsch ist, und wo die Leute sich nur beschweren und nicht gut arbeiten. Ich übertreibe, aber es ist ein bisschen so. Das Schweizer Kino hat ein Problem, das mit dem Land zu tun hat. Das heißt, das Land ist kein gutes Terrain für das Kino. Es gibt vier Sprachen, oder dreieinhalb, wenn man so will. Es gibt drei verschiedene Filmkulturen, eine, die mit dem französischen Kino zu tun hat, der englischsprachige Teil, und das Zürcher Kino, das sich mehr am deutschen Kino orientiert. Kurz gesagt: Eine Art Patchwork, das man kaum zusammensetzen kann. Das ist das unlösbare Problem der Schweiz.

Das argentinische Flair ist im Film zu spüren.

Warum ist der Film in fünf Kapitel unterteilt? Steckt dahinter eine künstlerische oder erzählerische Entscheidung? 
Es geht darum, eine Geschichte, die an sich schon etwas ungewöhnlich ist, auf eine sehr klassische Art und Weise zu erzählen. Der Film hat keine klassische Art wie Höhepunkt, Konflikt und so weiter. Aber es ist auch eine literarische Form, den Zuschauer auf Distanz zu halten. Ich mag die Idee nicht, alles vorzutäuschen, Realismus in diesem Sinne scheint mir eine Lüge zu sein. Die Idee, dass es Kapitel gibt, war beabsichtigt, Teil dieser Idee zu sein, dass der Film seine Distanz wahrt.

Der Film hat einen sehr argentinischen Touch, von den Kulissen bis zu seinem ironischen Humor. Azor hat am Zurich Film Festival den Swiss Emerging Talent Award gewonnen. Wie ist der Film beim Schweizer Publikum angekommen? 
Um zu erklären, wie argentinisch der Film ist, muss ich zuerst die Anwesenheit von Mariano Ginás während des Schreibens erwähnen. Er war wie ein Drehbuchberater, der später immer mehr zu einem Freund wurde. Ihm verdanke ich einen großen Teil der Argentinität des Films, aber auch meine eigene Leidenschaft, sogar Identifikation mit der argentinischen Fiktion und Literatur. Was die Rezeption angeht, war es in der Schweiz anders als zum Beispiel in England. In England hatte der Film einen ganz gewaltigen und fast unerklärlichen Erfolg. Das lag letztlich an konkreten Gründen, zum Teil am Ton des Films, wo alles unausgesprochen und nur angedeutet ist. In der Schweiz ist das Thema Banken im Kino nicht sehr erfolgreich. Man will sich nicht zu sehr damit beschäftigen, weil man nicht stolz darauf ist, zu entdecken, was das Bankensystem der Welt angetan hat. Und der Film ist nicht gerade zärtlich gegenüber der Schweiz. Ich denke, oder hoffe, dass der Film aus verschiedenen Perspektiven gelesen werden kann. Die Argentinier sehen etwas anderes als die Schweizer, die Engländer sehen etwas anderes als die Argentinier und die Schweizer, und so weiter. Ich finde es gut, wenn ein Film weder eindeutig noch einstimmig ist.  

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