Buenos Aires – Cristina Fernández de Kirchner war Staatspräsidentin Argentiniens von 2007 bis 2015, danach Vizepräsidentin von 2019 bis 2023. Jetzt muss sie ins Gefängnis. Der Oberste Gerichtshof Argentiniens wies am Dienstagabend den Berufungsantrag der Verteidiger Kirchners zurück und bestätigte das vorherige Urteil der Zweiten Kammer des Bundesgerichtshofs Buenos Aires. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass die heute 72-jährige Fernández de Kirchner während ihrer Amtszeit als Regierungschefin wissentlich Teil eines Netzwerks war, das Einfluss und Regierungsaufträge verkaufte. Die Gattin des 2010 verstorbenen und ebenfalls ehemaligen Präsidenten Néstor Kirchner muss eine Haftstrafe von sechs Jahren verbüßen. Sie darf damit auch nicht mehr bei den im Oktober anstehenden Parlamentswahlen kandidieren.
Argentinien-Kenner wissen: Cristina Kirchner ist nicht die erste argentinische Ex-Präsidentin, die sich vor Gericht verantworten muss. 2001 musste Carlos Menem, Staatschef von 1989 bis 1999, eine Haftstrafe im Hausarrest antreten. Internationales Aufsehen erregte 1985 die historische Verurteilung ehemaliger Mitglieder der Militärjunta, die Argentinien nach dem Putsch von 1976 bis 1983 regierten. Damals galt das Urteil als Signal einer neuen Ära der Rechtsstaatlichkeit.

Eine Ära unter Anklage
Das Urteil gegen Cristina Kirchner wiegt heute mindestens genauso schwer. Zusammen mit ihrem verstorbenen Ehemann, Néstor Kirchner, verkörperte sie für viele Argentinier den Wiederaufbau nach dem Staatsbankrott von 2001/2002. Der Name Kirchner steht für das rasche Wirtschaftswachstum zwischen 2003 und 2007 mit jährlichen Wachstumsraten von bis zu sieben Prozent. Ganz im Stil ihrer politischen Vorbilder Juan und Evita Perón nutzten die Kirchners ihre Regierungsjahre zum massiven Ausbau des Sozialstaates – zunächst getragen von der Konjunktur, später von einer zunehmend inflationären und schuldengetriebenen Wirtschaftspolitik.

Die Justiz geht davon aus, dass Kirchner auch nach dem Tod ihres Mannes Teil eines weitverzweigten Korruptionssystems blieb. Minister, Vertraute und Familienmitglieder haben über Jahre hinweg Aufträge und politische Gefälligkeiten in Millionenhöhe verkauft oder vermittelt haben.
Schuldspruch mit politischer Sprengkraft
Das aktuelle Urteil ist nur eines von vier Verfahren gegen Kirchner. Neben dem sogenannten „Vialidad“-Fall laufen Ermittlungen in den Affären „Los Sauces“, „Cuadernos“ und dem „Iran-Memorandum“. Die Tatsache, dass der Schuldspruch nur vier Monate vor den wichtigen Midterm-Wahlen fiel, dürfte den politischen Wahlkampf entscheidend beeinflussen. Präsident Javier Milei hatte gehofft, das Verfahren würde sich bis nach der Abstimmung hinziehen. Ein Schuldspruch vor der Wahl könnte Kirchner für ihre Anhänger zur Symbolfigur – oder gar zur Märtyrerin – stilisieren. Mehrfach hatte sich Milei gegenüber Vertrauten entsprechend geäußert.
Mythos und Realität
Cristina Kirchner ist längst mehr als eine Politikerin. Ihre Person prägt den politischen Alltag in Argentinien und spaltet das Land tief. Für viele steht sie – trotz aller Skandale – bis heute für soziale Gerechtigkeit und den Versuch einer Umverteilungspolitik zugunsten der Armen. Für andere ist ihr Name zum Synonym für Korruption und Machtmissbrauch geworden.
Auch der Verdacht auf Vertuschung eines Mordes lastet auf ihr: In der Causa „Iran-Memorandum“ gilt sie als mutmaßliche Mitwisserin im Fall des ermordeten Staatsanwalts Alberto Nisman, der am 18. Januar 2015 unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden wurde.

Einen Schritt näher
Einen Tag nach dem Urteil, das der ehemaligen Staatspräsidentin auf Lebenszeit die Ausübung eines öffentlichen Amtes untersagt, sind die politischen und gesellschaftlichen Folgen noch nicht absehbar. Ein Kreis von Parteigenossen der peronistischen Partei, Freunde und auch Gewerkschaften hatte für den Fall eines Schuldspruchs mit sozialen Unruhen gedroht. Das Bild einer Cristina Fernández de Kirchner im Hausarrest mit elektronischer Fußfessel dürfte in den nächsten Tagen für Zündstoff sorgen.
Doch das gleiche Bild dürfte auch vielen anderen signalisieren: Lateinamerikas drittgrößte Volkswirtschaft ist seit Dienstag dem Modell eines funktionierenden Rechtsstaats ein Stück näher gekommen – allem politischen Kalkül zum Trotz.
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