30. 10. 2024

Stuttgart / Buenos AiresVor einigen Wochen hatte ich mich lobend über die Diagnose Mario Draghis zur schwachen Produktivitätsentwicklung in Europa geäußert. Nicht ohne eine Prise Skepsis angesichts seiner Empfehlung, die anstehenden Investitionen durch gemeinsame europäische Anleihen zu finanzieren. Aber lassen wir diesen Aspekt mal außen vor und vertiefen stattdessen die Gründe für die Wachstumsschwäche, die den alten Kontinent im Vergleich zu den USA immer älter aussehen lässt.

Seit den Zeiten von Nikolaus Kopernikus und Leonardo da Vinci hat Europa bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts technologisch stets an der Spitze gestanden. Erfindungen und Innovationen waren die Merkmale des alten Kontinents. Seither hecheln wir bei den Zukunftstechnologien hinterher. Unternehmen wie Apple oder Nvidia haben für sich allein genommen eine höhere Marktkapitalisierung als alle börsennotierten Aktiengesellschaften in Deutschland zusammen. Und der Trend deutet auf ein weiteres Auseinanderdriften hin. Warum?

Gründe für Europas Unterlegenheit bei der Produktivität

Zunächst einmal investiert Europa, und vor allem Deutschland,viel zu wenig in digitale Technologien. Das gilt auch für die Unternehmen. Seit 1995 hat sich der Kapitalstock mit IT-Bezug in Deutschland und Frankreich verdreifacht. Das hört sich nach viel an. Aber es ist nicht genug. In den USA hat sich der High-Tech-Kapitalstock im gleichen Zeitraum verneunfacht!

Da sich die Produktivität in der Informationstechnologie deutlich dynamischer entwickelt als in anderen Sektoren der Volkswirtschaft, schneidet Europa gesamtwirtschaftlich schlechter ab als die USA. Abbildung 1 zeigt den gigantischen Unterschied bei den sektoralen Steigerungsraten der Produktivität. Aber selbst außerhalb der Informationstechnologie im engeren Sinne verzeichnen die USA höhere Produktivitätszuwächse als Europa. Das liegt auch daran, dass alteingesessene Branchen ebenfalls produktiver werden, wenn sie mehr IT einsetzen.

Ursache sind unter anderem unterschiedliche Industriestrukturen dies- und jenseits des Atlantiks: Große Firmen investieren mehr in IT als kleinere. In den USA arbeiten 60 % aller Beschäftigten in Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern. In Deutschland und Frankreich weniger als 40 %.

Zudem haben es innovative junge Unternehmen hierzulande schwerer, erfolgreich zu sein, weil es einerseits an Risikokapitalgebern fehlt, andererseits bürokratische Hürden allzu oft dazu führen, dass aus Erfindungen keine marktfähigen Innovationen werden. Stattdessen wandern vielversprechende Start-ups aus, oft eben nach Amerika.

Jährliche Veränderung Bruttowertschöpfung pro Arbeitnehmerstunde (1997-2023)

Produktivität, LBBW
Quelle: LBBW

Mehr Mut zu Neuem

Europa, und einmal mehr insbesondere Deutschland, hat einen ausgeprägten Hang zum Bewahren dessen, was es in der Vergangenheit erfolgreich gemacht hat. Jeder Finanzinvestor weiß, dass Erträge in der Vergangenheit keine Garantie für Erfolge in der Zukunft sind. Und so ist es auch in der Volkswirtschaft insgesamt. Ein Indikator sind die größten Unternehmen an der Börse. Keiner der Top-10-Werte mit der höchsten Marktkapitalisierung im US-Börsenindex S&P500 war auch 1997 schon unter den zehn größten (Microsoft trat 1998 in diese Gruppe ein). Dagegen gehörte die Hälfte der zehn wertvollsten Unternehmen im DAX auch 1997 schon zu der illustren Gruppe. Das durchschnittliche Alter der zehn größten DAX-Werte beträgt 100 Jahre, mehr als doppelt so viel wie das der zehn größten US-Werte (siehe Abbildung 2). In einer sich immer schneller verändernden Welt verliert, wer nur daraufsetzt, Bewährtes zu bewahren, und es nicht wagt, Neues zu entwickeln.

Durchschnittsalter der 10 wertvollsten börsennotierten Unternehmen

Unternehmen, Alter
Quelle: LBBW

Dr. Moritz Kraemer,
Chefvolkswirt und Leiter Research

LBBWResearch@LBBW.de

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