28. 06. 2024

Buenos Aires (AT) – Scheideweg, Neuanfang, Generationserbe. Argentiniens Politik mag das große Pathos. Doch selten kamen Realität und Fiktion in der jüngeren Geschichte des Landes so zusammen wie bei der Abstimmung des Reformpaketes “Ley Bases” und der angehängten Steuer- und Fiskalreform der Fall gewesen sein könnten.

Nach sechs Monaten filmreifen Polit-Dramas, mit wochenlangen Verhandlungen auf Landes-, Provinz-, Kommunal- und Stadtebene; persönlichen Anfeindungen, die in jeder anderen Zeit nur noch den Ruf nach Sekundanten übrig gelassen hätten; Protesten und Demonstrationen, deren Bilder von verbrannten Autos, hochgerüsteten Polizeieinheiten und Steine werfenden Aktivisten um die Welt gingen, hat das Unterhaus des argentinischen Parlament zum letzten Mal -nach der knappen Abstimmung im Senat– über das ehrgeizige Reformpaket entschieden. Mit einer am Ende deutlichen Mehrheit von 147 Ja-Stimmen gegen 107 Nein-Stimmen bestätigte die Abgeordnetenkammer das Reformpaket.

Diputados, Ley Bases,
Abgeordnete der Regierungspartei und ihrer Verbündeten feiern die endgültige Verabschiedung der Ley Bases. (Foto La Nacion)

Die Ley Bases und die angegliederte Steuer- und Fiskalrefom gelten als deutlischer Sieg der jungen Administration Milei. Insbesondere auch als Signal und Gradmesser ins Ausland, das zeigt, dass der extrovertierte und nicht immer politisch korrekte Javier Milei nicht nur Polit-Theater sondern auch liefern kann. Das Votum stellt für viele auch die Möglichkeit eines „man-on-the-moon moment“ – in Anlehnung an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – dar. Ob es dazu kommt, hängt jetzt davon ab, mit wieviel Geschick die Regierung Milei das Paket umzusetzen weiß und dabei die Bevölkerung -immer wieder- “abholen” kann.

Warum die Ley Bases so viel mehr sein kann

Das in seiner wörtlichen Übersetzung umständlich als „Grundlagengesetz und Neuanfang zur Freiheit der Argentinier“ definierte Reformpaket, ermächtigt die Regierung große Teile des wirtschaftlichen Lebens aber auch der öffentlichen Verwaltung neu zu denken und umzubauen. Um so mehr, als die Ley Bases begleitet wird von einer nicht minder ehrgeizigen Steuer- und Fiskalreform.

Die rund 238 Artikel, die die Ley Bases ausmachen -das Original zählte 644 Gesetzesartikel und Verordnungen- ordnen sich nach 10 Themenbereichen. Darunter: Ausrufung des wirtschaftlichen und sozialen Notstands; Vollmachten zur Reform des Staatsapparates; Förderung und Modernisierung des Arbeitsmarktes; aber auch zur Umsetzung und Gewährleistung eines Anreizsystem zur Förderung und Schutz von Großinvestitionen (RIGI) in strategisch wichtigen Wirtschaftssektoren wie Energie, Landwirtschaft, Bergbau oder Technologie; sowie eine Neuordnung des Rentensystems und der Altersversorgung.

Privatisierung: weniger kann morgen mehr sein

Das Gesetzespaket sieht auch eine vollständige oder zumindest teilweise Privatisierung von Staatsunternehmen vor. Waren es im Originalentwurf rund 41 Unternehmen, die der Staat verkaufen wollte, schrumpfte die Liste im Verlauf des “Gebens und Nehmens” zwischen Regierung, Unter- und Oberhaus auf heute acht Unternehmen. Rausgefallen sind Schwergewichte wie die hochdefizitäre Aerolineas Argentinas, die Fluggesellschaft, die mit ihren rund 15.000 Beschäftigten dem Staat bis dato rund US$ 7,5 Milliarden eingeflogen hat. Die Regierung setzt aber darauf, den “Ballast” von Aerolineas vielleicht schon im nächsten Jahr abwerfen zu können, sollten die midterm elections des Jahres 2025 der Regierungspartei die entsprechende politische Schlagkraft im Parlament bringen.

Diputados, Ley Bases
Das Plenum des argentinsichen Unterhauses in der Nacht zum Freitag, hat das Reformpaket Ley Bases im Unterhaus mit 147 zu 107 Stimmen endgültig bestätigt und angenommen.

Immerhin, in der Liste verblieben sind Altlasten wie das Handlingunternehmen Intercargo, das Energiekonsortium Enarsa oder auch Yacimientos Carboniferos de Río Turbio, das Betreiberunternehmen von Argentiniens Erdkohle Vorkommen Rio Turbio.

Zwischen Instrumentarium und Bringschuld

Das Reformpaket stellt eine klar marktorientierte Wende für das „Geschäftsmodell“ von Lateinamerikas drittgrößter Volkswirtschaft dar; allen Kritikern aber auch allen Kürzungen zum Trotz, die das Projekt Ley Bases & Co. in seiner langen Verhandlungsphase durchlaufen hat.

Nach Jahrzehnen der fast totalen Regulierung des Wirtschaftslebens, unzähligen Kapitalverkehrskontrollen, erschöpften Zentralbankreserven, immer wieder kehrenden Rezessionen und Haushaltsdefiziten sowie Inflationsschüben im dreistelligen Bereich gibt das Reformpaket der Regierung die Werkzeuge, um einen liberal orientierten Strukturwandel durchführen zu können.

Viel hängt davon ab, mit wieviel fortune das Team um Javier Milei das Instrumentarium der Ley Bases zu nutzen weiß, um die von Bevölkerung aber auch von ausländischen Geldgebern immer lauter eingeforderten Verbesserungen der Lebensqualität zu gewährleisten. Entscheidend wird hier die Zusammenarbeit des Ökonomen-Dreigestirn sein: Javier Milei (Präsident), Luis Caputo (Wirtschaftsminister) und Federico Sturzenegger, dessen Ernennung zum Minister für Modernisierung bei Redaktionsschluss als sicher galt.

Noch kann sich Milei in der Bevölkerung auf Zustimmungsraten von über 50% stützen, die seine seit Dezember durchgeführte wirtschaftspolitische Rosskur billigen; inklusive Rezession und Armutsanstieg. „Schon das kommt einem kleinen Wunder gleich“, erklärte ein Investmentbanker mit Sitz in der Schweiz in diesen Tagen im Gespräch mit dem Argentinischen Tageblatt. Allerdings: „Bis Jahresende muss die Regierung aber nun auch liefern“, faßte er zusammen.

La tierra, desde la luna

Die Meinung bündelt die die Erwartungshaltung im In- und Ausland Argentiniens und across the aisle wieder. Insbesondere Präsident Javier Milei hat seit gestern keine Grundlage mehr um Probleme oder Schwierigkeiten seinen Vorgängern in die Schuhe zu schieben. Er ist nun in Bringschuld. Verbraucher, Haushalte und Unternehmen wollen Stabilität und Aufwärtstrend; nicht zum Greifen nahe, doch mindestens im Blickfeld zu haben.

Das beginnt mit einer anhaltend weiter fallenden Inflation, einer nachhaltigen Erholung bei Gehältern und Einkommen sowie einer spürbaren Öffnung der Wirtschaft. Und: Investitionsanstieg sowie Aufhebung der Devisenkontrollen. In einem Wort -um es mit Horst Hrubesch zu sagen- mit mehr Planungssicherheit und einer spürbar steigenden Lebensqualität. Schon das wäre ein „man-on-the-moon moment“ aber halt nach argentinischer Art.

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Flavio CannillaVon
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  1. Roberto Campos

    Aufklärend und schön zusammengefasst

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